© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
"Freiheit für die echte Demokratie"
Der EU-Parlamentarier Jens-Peter Bonde über den EU-Gipfel von Nizza, Eurokratie und die Notwendigkeit des Nationalstaates
Moritz Schwarz

Herr Bonde, der EU-Gipfel von Nizza wird von den beteiligten Politikern einhellig als Erfolg gewertet, Sie aber teilen diese Einschätzung nicht?

Bonde: Das ist natürlich immer ein Erfolg für Beamte und Minister, die bei so einer Gelegenheit den Wählern die Macht stehlen können. Man hat in vierunddreißig politischen Bereichen das Vetorecht der Nationalstaaten zugunsten eines vom Ministerrat hinter verschlossenen Türen ausgeheckten Systems "qualifizierter Mehrheiten" abgeschafft. Das ist ein weiterer Schritt, die Macht der Gesetzgebung, Ursprung aller Demokratie, von Wähler und Gewähltem an Beamte und Minister übergehen zu lassen. Für die Beamten ist das natürlich ein Erfolg, für die Wähler aber eine Entdemokratisierung.

Schwedens Staatschef Göran Persson sagte zuvor: "Wir werden sagen, daß der Gipfel ein Erfolg war, weil wir das immer machen".

Bonde: Ach, ich habe mindestens an fünfzig Gipfeln teilgenommen, und ich erinnere mich überhaupt nur an einen einzigen Gipfel, von dem nicht behauptet wurde, er sei kein Erfolg gewesen. "Der Gipfel war erfolgreich" – das ist Bürokratensprache.

Teilen Sie die Kritik des Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses des Europaparlamentes, Elmar Brok, der Vertrag sei ein "Katastrophe"?

Bonde: Ja, sicher.

Was kritisieren Sie im einzelnen?

Bonde: Hinter dem Begriff der "verstärkten Zusammenarbeit" versteckt sich die Möglichkeit, zum Beispiel für Frankreich oder Deutschland, einen "Club" zu schaffen, eine Art Holding, in der die großen Länder über die kleinen und die an der Peripherie die Macht ergreifen. Das Mittel dazu ist eben diese jetzt in Nizza beschlossene "qualifizierte Mehrheit", durch die zum Beispiel acht Länder die Integration in ihrem Sinne forttreiben können, über die Köpfe der kleinen, ja sogar über einen Volksentscheid hinweg. Ein Volksentscheid hat also eventuell keinen Einfluß mehr! Bedenken Sie, der neue Artikel sieben gibt die Möglichkeit, eine demokratische Wahl zu kassieren. – Interessanter Demokratiebegriff! Man denkt an Brecht und die Regierung, die ihr Volk auswechselt.

Das heißt, die EU beseitigt echte Demokratie zugunsten eines positivistisch-funktionalen "Demokratismus"?

Bonde: Kern der Demokratie ist, daß man stets eine neue Mehrheit und mit ihr neue Gesetze schaffen kann. Wenn man diese nicht mehr haben will, kann man neue Mehrheiten und damit neue Gesetze schaffen. Dieses Grundprinzip der Demokratie, das in allen Mitgliedsländern auf nationaler Ebene besteht, gibt es auf EU-Ebene nicht. Es gibt nämlich kein europäisches Volk, das eine neue Mehrheit bewirken kann – der Wähler kann ein beschlossenes EU-Gesetz nie mehr verändern! Und was bekommt man anstatt Demokratie? Man bekommt eine Spezialität, nämlich ein System, in dem nur nicht gewählte Kommissare Gesetzesentwürfe einbringen können und nur die qualifizierte Mehrheit im Rat, Beamte und Minister, diese beschließt.

Bestätigt sich diese Analyse in der Alltagserfahrung, die Sie als Europaparlamentarier in Brüssel machen?

Bonde: Ich will Ihnnen noch ein Beispiel aus dem Alltag der Euro-Bürokratie nennen, das sehr bedenklich ist und zeigt, wie das System "EU" tatsächlich funktioniert. Es ist beschlossen worden, daß die Löhne von Abgeordneten des Europäischen Parlamentes mit niedrigen EU-Steuern belegt werden. Das heißt, daß ich, statt Vertreter dänischer Wähler in Brüssel zu sein, zum EU-Angestellten mit besonderen Steuervorteilen werde. Verstehen Sie? Man bringt mich also gegen meine eigenen Wähler in Stellung. Das mag ich überhaupt nicht.

Die neue Abstimmungsregelung im Europäischen Rat bringt eine doppelte Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit, die sich in sich widersprechen kann. Ist dieses System für den EU-Bürger noch zu verstehen?

Bonde: Nein. Das zu erklären, etwa für Schüler, ist unmöglich. Ich sitze gerade an einer Ausarbeitung darüber – es ist unmöglich. Aber das ist nur der Gipfel der Undurchschaubarkeit. Tun Sie nicht so, als sei bisher alles transparent gewesen. Keiner weiß, wie Gesetze in Brüssel gemacht werden, auch die Journalisten nicht, ja nicht einmal die Minister. Das glauben Sie nicht? Das ist ein
Faktum!

Wie bewerten Sie die beschlossene Reform der Europäischen Kommission?

Bonde: Die Kommission wird eine Regierung, ihr Präsident erhält die Macht eines Staatschefs. Und er muß nicht einmal mehr in Einstimmigkeit, sondern nur noch durch qualifizierte Mehrheit gewählt werden. Er kann über seine Kommissare entscheiden. Das ist eine europäische Regierung, aber ohne eine europäische Demokratie. So kann man das nicht machen.

Wie sieht der Weg aus dieser sich verfestigenden Eurokratie aus?

Bonde: Es gibt zwei Modelle: Einmal die US-amerikanische Lösung eines föderalen Unionsstaates mit einer Bundes- und einer Länderkammer. Das ist auch das Modell der Föderalisten in Europa, wie etwa der Deutschen. Ich bin nicht dafür, weil ich nicht glaube, daß es möglich ist, ein europäisches Volk zu schaffen. Dabei ist mir diese Variante eigentlich sympathisch, mir gefällt die supranationale Lösung. Doch das reale Europa ist kein Projekt der Gesellschaftswissenschaften, sondern eines des gemeinsamen Marktes etc.

Wie lautete Ihr Gegenvorschlag?

Bonde: Das ist das zweite Modell: Man muß euro-realistisch sein. Grundsätzlich müssen die EU-Beschlüsse der Kontrolle gewählter, demokratischer National-Parlamente unterliegen. Doch gibt es auch Fragen, wo die nationalen Parlamente keine Macht mehr haben, weil die Probleme für den klassischen Nationalstaat allein nicht zu lösen sind: etwa die Luft- und Gewässerverschmutzung oder die Besteuerung multinationaler Konzerne. Diese Fragen müssen dann auf einer europäischen Ebene gemeinsam gelöst werden. Aber das kann kein Argument dafür sein, Fragen, die sich noch auf nationaler Ebene lösen lassen, auch dorthin zu heben und damit der Demokratie zu entziehen. Warum will man angesichts supranationaler Probleme auch noch obendrein die Demokratie zerstören? Die Ambition des Europa-Parlamentes sollte sein, supranationale Probleme zu regeln, nicht einen neuen supranationalen Staat zu schaffen. Europa sollte zweierlei bieten: möglichst viel Freiheit für die echten Demokratien und eine schlanke EU, die fit ist, unsere gemeinsamen Probleme zu lösen.

Sie sehen den Nationalstaat als Garanten der Demokratie in Europa?

Bonde: Er ist der Garant der Demokratie, weil er schlicht die einzig mögliche Form ist, tatsächlich lebendige Demokratie zu haben.

Geht die Initiative, die Demokratie durch Europa abzubauen, nicht von Deutschland aus?

Bonde: Deutschland ist einer der Initiatoren dieses Weges. Die großen Multis sind ein anderer Initiator, denn diese arbeiten ja immer für mehr Integration. Das ist für sie doch ganz praktisch. Man muß in Brüssel nur einen Lobbyisten kaufen, statt in jedem Lande einen.

Wie schätzen Sie den Kurs Außenminister Fischers ein?

Bonde: Ich habe ein nuanciertes Bild: Einerseits lehne ich seinen Vorschlag eines direkt gewählten Präsidenten ab. Aber seine Idee, die National-Parlamente sollten ein Gremium schaffen, um die EU-Geschäfte zu kontrollieren, finde ich sehr richtig. Fischer ist für mehr Transparenz und mehr Demokratie.

Sagten Sie nicht, Deutschland sei ein Initiator der Zerstörung der Demokratie in Europa?

Bonde: Ja, leider – ich habe mit Fischer ja auch selbst gesprochen – ist er in einigen Fragen für mehr Demokratie, jedoch in anderen für weniger.

Deutschland und Frankreich arbeiten eng zusammen. Die Franzosen hatten im letzten halben Jahr die Ratspräsidentschaft inne. Wie bewerten Sie diese?

Bonde: Leider war sie geprägt von Chauvinismus. Chirac ist da der schlimmste. Deutschland hat doch gar nicht seine eigenen Interessen formuliert. Auch wenn Deutschland nun der Gewinner ist, denn die ganze Agenda ist ja ein Europa, wie Deutschland es will, ein weiterer Schritt in Richtung Bundesstaat. Dieses Interesse hat Deutschland durchgesetzt, allerdings – anders als Frankreich – ohne Chauvinismus.

Fühlen sich die kleineren Nationen von den großen bedroht ?

Bonde: Aber ja. Allerdings hat sich Frankreich auch gegenüber Deutschland nicht sehr freundlich verhalten, da es verhindert hat, daß die Deutschen mehr Stimmen im Rat haben als die Franzosen, wie es Euch Deutschen eigentlich ja zustünde. Nun haben alle großen Staaten, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien je 29 Stimmen erhalten, ungeachtet des doch eklatanten Unterschieds in der Bevölkerungszahl.

Wie ist die Stimmung in Dänemark angesichts des Kompromisses von Nizza?

Bonde: Ich denke, die Ost-Erweiterung findet Zustimmung. Was den Nizza-Vertrag angeht, kennen wir die Stimmung noch nicht. Es ist noch nicht sicher, ob darüber ein Volksentscheid angestrengt werden wird, und es ist dann auch nicht sicher, ob in diesem der Vertrag abgelehnt werden wird.

Wie stehen Sie zur Ost-Erweiterung?

Bonde: Ich bin dafür. Man muß unterscheiden: die Osterweiterung soll in einem gesonderten Protokoll, die übrigen Punkte sollen in einem Vertrag beschlossen werden. Ich bin für das Protokoll, aber gegen den Vertrag.

Rechnen Sie mit einem Volksentscheid in Ihrer Heimat?

Bonde: Ja, und mit einem großen Kampf. Aber sicher sein kann man sich nicht. Ich glaube, es hängt von den Reaktionen in den anderen Ländern ab – kommt es dort zu breiten Diskussionen über den Nizza-Vertrag, wird das die Chance auf eine Volksabstimmung bei uns erhöhen. Ich hoffe also sehr, daß es auch in Deutschland zu einer offenen Debatte kommt, ob der Vertrag nun mehr Demokratie oder mehr Bürokratie bringt.

Wie soll es in Deutschland zu einer offenen Debatte kommen, das Volk ist von der Diskussion ausgeschlossen: es gibt keine Volksentscheide zur EU, und der obrigkeitsstaatliche Weg nach Europa ist eine Art Staatsdoktrin, die von den Grünen bis zur CDU von allen getragen wird. Die einzigen, die das Privileg genießen, über Europa und unsere Demokratie diskutieren zu dürfen, sind die Politiker. Sind sich denn die Menschen in Dänemark bewußt, daß sie auch für viele Menschen in Deutschland mit abstimmen, weil wir uns nicht artikulieren dürfen?

Bonde: Das hoffe ich, meine Stimme – meine Nein-Stimme – ist insofern eine europäische Stimme, nicht eine dänische Stimme. Es stimmt, wir Dänen haben Recht und Pflicht, für die Europäer zu stimmen, wenn die Europäer keinen Volksentscheid bekommen. In den meisten europäischen Ländern gibt es eine Mehrheit von siebzig oder achtzig Prozent für Volksentscheide vor allem für EU-Fragen. Tatsächlich gibt es diese aber in vielen Ländern nicht. Also haben wir Recht und Pflicht, über den Nizza-Vertrag abzustimmen und ihn gegebenenfalls auch zu kassieren. Aber ich hoffe auf die Hilfe der Menschen in Deutschland.

EU-Kommissar Günter Verheugen ist für seinen Vorschlag, etwa über die EU-ErweiterungVolksabstimmungen in der Union abzuhalten, geradezu aggressiv kritisiert worden.

Bonde: Ich stehe da voll hinter Verheugen.

Warum hat man ihn mundtot gemacht?

Bonde: Weil man die Wähler fürchtet. – Die schlimmste Drohung in der Nizza-Konferenz war, immer wieder von der dänischen Delegation eingesetzt: Dann
machen wir bei uns eine Volksabstimmung! Ist es nicht bezeichnend, daß man den EU-Politikern mit Volksentscheiden solche Angst einjagen kann? Das sagt doch alles!

Am Ende hat nur noch Belgien für die Rechte der kleinen Länder gekämpft, warum nicht auch Dänemark?

Bonde: Weil wir einen Staatsminister haben, der nicht loyal gegenüber seinen Wählern, sondern gegenüber Schröder und Chirac ist. Deshalb hat auch der dänische Komissar als einer der ersten aufgegeben, statt mit den anderen kleinen Ländern solidarisch zu sein.

Hat sich Dänemarks Entscheidung, dem Euro nicht beizutreten, als richtig erwiesen?

Bonde: Die Zinsen sollten steigen, tatsächlich aber sind sie gefallen. Der Share-Index ist dagegen gestiegen. Die Krone sollte angeblich fallen, ist aber gestiegen. Alle Unheilsprophezeiungen, mit denen man versucht hat, uns zum Euro zu bewegen, sind nicht eingetroffen, statt dessen befindet sich der Euro in freiem Fall.

Wird Dänemark früher oder später dennoch dem Euro-System beitreten?

Bonde: Das hängt von Deutschland ab, wenn der Euro in dreizehn Monaten die Deutsche Mark ablösen wird und der Euro ein Erfolg wird, dann wird der Euro als Parallel-Valuta auch zu uns kommen. Aber solange Großbritannien und Schweden sich nicht anschließen, wird Dänemark versuchen, weiter bei seinem Kurs zu bleiben.

Sie sagten, die von Deutschland vertretenen Interessen seien nicht die eigenen, sondern die eimes europäischen Bundesstaates. Aus geschichtlicher Verantwortung, so wird stets einschlägig argumentiert, müßten die Deutschen Europäer sein.

Bonde: Ich bin absolut dagegen, daß man sagt, man dürfe den Deutschen keine volle demokratische Freiheit lassen, weil sie vielleicht nicht richtig wählen. Diese, ich glaube "Einbindung" nennt man das bei Ihnen – das war ja das Kohl-Argument: Man müsse die Deutschen einbinden – ist gefährlich, wirklich gefährlich. Wenn Sie so etwas machen, bekommen Sie eine rechte Reaktion aus Protest.

 

Jens-Peter Bonde geboren am 1948 in Apenrade im dänischen Teil Schleswigs. Der Politologe und Autor zahlreicher Bücher ist seit 1979 Abgeordneter des Europäischen Parlamentes und Mitglied der linksliberalen dänischen "Junibewegung",Teil der Fraktionsgemeinschaft "Für das Europa der Demokratien und der Unterschiede" im Straßburger Parlament.

"Junibewegung": Nach den Verträgen von Maastricht spaltete sich 1992 die "Junibewegung" von der dänischen "Volksbewegung" ab. Während die "Volksbewegung", für einen EU-Austritt Dänemarks wirbt ("nationales Nein zur EU"), tritt die "Junibewegung" für eine schlanke europäische Konföderation ("demokratisches Nein zur EU") ein.

 

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