© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Verschleppt und vergessen
Entschädigung: Eine Veranstaltung in Berlin thematisierte das Schicksal ehemaliger deportierter deutscher Zivilisten
Annegret Reelitz

Mit den breiten, öffentlich geführten Debatten um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern wurde an eine Praxis erinnert, deren Aufarbeitung sicherlich notwendig war, doch darf dabei nicht verdrängt werden, daß Hunderttausende zur Zwangsarbeit verschleppte deutsche Zivilisten, in ihrer Mehrheit Frauen, darauf warten, als Opfer anerkannt zu werden. Diese Menschen habe keine Lobby, und so gibt es keine gesetzliche Regelung, die eine Wiedergutmachung für die Leidenszeit der wenigen Überlebenden vorsieht.

Andreas Apelt, Mitglied der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus in Berlin, lud zu einem interessanten Gespräch im Landtag ein, mit hochkarätigen Gästen wie dem Historiker Arnulf Baring, der Schriftstellerin Freya Klier, dem Vize-Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und früheren DDR-Bürgerrechtler Günter Nooke sowie der ehemaligen Deportierten Frau Protze.

Man wünscht sich mehr solche hervorragend organisierten Veranstaltungen und ein größeres Echo in den Medien. Andreas Apelt stellte gleich zu Beginn fest, worum es hier ging, nämlich nicht um Aufrechnung, sondern darum, Unrecht als solches ins öffentliche Bewußtsein zu heben. Pat Buchanan hat einmal geschrieben: "Die Welt weiß alles, was die Deutschen getan haben, aber sie weiß nichts über das, was den Deutschen angetan worden." Warum finden wir uns erst jetzt nach 50 Jahren schamhafter Verdrängung bereit, auch unsere Opfer zu Wort kommen zu lassen? 40 Jahre wurden die Zurückgekehrten im Osten Deutschlands unter Androhung von Strafe und Arbeitslager zum Schweigen verpflichtet. Schließlich sollte kein Schatten auf den großen Sowjetbruder fallen.

Und im Westen? Hier wurden sie nicht wahrgenommen. Gerade die Frauen wurden auf allen Heimkehrerbahnhöfen ausgeblendet, nicht gezeigt. Schämte man sich? Und die Opfer selbst? Ihnen wurde glaubhaft gemacht, ihre oft jahre- oder gar jahrzehntelange Zwangsarbeit nach dem Krieg in den russischen Arbeitslagern sollte eine "deutsche Schuld" abtragen.

Besonders im Fall der Baltendeutschen war das eine Geschichtsverdrehung. Die Baltikum-Staaten haben niemals Rußland angegriffen, im Gegenteil, sie sind von Rußland okkupiert worden. Dieser Menschenraub war von Stalin geplant und bereits im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta von dem US-Präsidenten Roosevelt und dem britischen Premier Churchill für gut befunden worden. Warum gibt es immer noch keine konkreten Zahlen zu unseren Verschleppten? Die Regisseurin Freya Klier fand nach sorgfältigen Recherchen heraus, daß zum Beispiel der KGB nur die in Sibirien "angekommenen" Verschleppten gezählt hatte. Die wenigsten Frauen, Mädchen und Kinder überlebten die Strapazen der langen Märsche (wer liegenblieb, wurde erschossen), massenhaften Vergewaltigungen in den GPU-Zentralen, Soldatenlagern oder Kommandanturen und die oft mehrwöchigen Odysseen in den verschlossenen Transportzügen. Sie mußten auch in Eiseskälte auf nackten Brettern schlafen, bekleidet nur mit dem, was man ihnen belassen hatte nach ihrer willkürlichen Verhaftung, bekamen Röstbrot und Rübenschnitzel zu essen und wenig Wasser. Das Rote Kreuz in München rechnet allein mit 422.000 spurlos verschwundenen deutschen Verschleppten. Wie viele dieser Betroffenen leben heute noch? Man rechnet mit etwa 1.000 Menschen, eine halbe Million soll es gewesen sein. Opfer jenseits der Oder oder Neiße deportiert und damit nicht zum Zuständigkleitsbereich der späteren Bundesrepublik gehörend – vergessene Opfer.

Auch nach dem Mauerfall erfolgte die endlich fällige Anerkennung dieser Frauen und Männer nicht, weil man fürchtete, sie würde zu teuer. Heute, mit Eichels verbesserter Finanzsituation dank vermehrter Steuereinnahmen, wäre es sicher an der Zeit, eine Bereinigung dieses Unrechts vorzunehmen. Doch wie die CDU unter Kohl sich nicht bewegte, so hält auch die SPD sich eher bedeckt. Es ist eine Schande. 300 Milliarden Mark hat die Kohl-Regierung der russischen Mafia nachgeworfen. Dazu befragt, erklärte Kohl seinerzeit: "Na, das ist eben wie mit der Entwicklungshilfe."

Dabei sind die Folgen dieser dauernden einseitigen Schuldaufarbeitung bereits zu sehen. Arnulf Baring sprach von der zunehmenden inneren Vereisung unseres Volkes. Trauer, so fuhr er fort, ist viel elementarer als die Frage nach Recht und Unrecht. Oft brechen die Folgen dieser verschwiegenen Leiden erst in der Enkelgeneration hervor und äußern sich in körperlichen Leiden, in Liebes- und Bindungsunfähigkeit. So warnt der bekannte Historiker davor, das Finanzielle zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Im Kern geht es um die Trauer. Wir müssen unsererToten würdig gedenken, weil wir vor ihnen und unserer eigenen Geschichte bestehen wollen. Wir müssen unserer jungen Generation eine zukunftsfähige Gesellschaft übergeben.


 
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