© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Geschwindigkeit ist nicht alles
Verkehr: Die Bahn AG schöpft ihre wahren Potentiale bislang nur zum geringsten Teil aus (Teil I)
Ekkehard Schultz

Nun liegen die Fakten auf dem Tisch. Vor wenigen Wochen mußte die Bahn AG ihre optimistischen Umsatzprognosen revidieren und hohe Defizite einräumen. Bis zum Jahr 2005 werden zusätzliche Ausgaben in Höhe von 20 Milliarden Mark notwendig sein, um die Gewinnzone zu erreichen. Bahnchef Mehdorn sprach von einem "dramatischen Ergebnis" an einem "sehr kritischen Punkt der Bahnreform". Zudem seien "faire Wettbewerbsbedingungen" seitens des Bundes dringend erforderlich, um die geplante Sanierung des maroden ehemaligen Staatsbetriebes einzuleiten und den geplanten Börsengang nicht auf unbestimmte Zeit verschieben zu müssen.

Die wichtigste Aussage Mehdorns war freilich, daß sich die Bahn auf ihre Kernkompetenzen beschränken und nach der Devise verfahren müsse: "Die Bahn macht nur noch, was sich rechnet!" Damit unterscheidet sich Mehdorn freilich kaum von seinem gescheiterten Vorgänger Ludewig, der bei seinem Amtsantritt ähnliches verkündet hatte. Geplant sind Sanierungen auf wirtschaftlich tragfähigen Strecken, der Aus- und Neubau von Schnellverbindungen zwischen Ballungszentren und eine Wirtschaftlichkeitsprüfung von Strecken im Nahbereich, was die Einstellung zahlreicher Strecken zwangsläufig einschließt. Ferner soll der Verkauf des "Tafelsilbers" in Form von Immobilien beschleunigt werden. Außerdem stehen nach den derzeitigen Prognosen Entlassungen in größerem Ausmaße auf der Tagesordnung. So soll die Zahl der Mitarbeiter auf etwa 170.000 reduziert werden. Bereits nach Beginn der Teilprivatisierung von 1995 bis Ende 1999 sank die Zahl der Bahnangestellten um nahezu ein Drittel, nämlich von 313.000 auf 242.000.

Als langfristiges Ziel definierte Mehdorn eine wachsende Akzeptanz und Nutzung der Bahn durch breite Bevölkerungsschichten. Doch wie ist dies mit der Aussage zu vereinbaren, nur noch das zu tun, "was sich rechnet"? Auf den ersten Blick ermöglichen sicher Prestigeprojekte, wie die neuesten Planungen im Hochgeschwindigkeitsbereich, eine gute Ausgangsbasis für nationale und internationale Werbung. Doch die tatsächliche Stärke der Bahn AG bemißt sich nicht nur an der Verkürzung von Fahrzeiten zwischen entfernten Ballungsräumen, sondern in der sinnvollen Verknüpfung von Nah- und Fernverkehr. Während ICE-Züge in erster Linie von Geschäftsleuten und Reisenden auf Besuchs- und Urlaubsfahrten genutzt werden, möchte das tatsächliche Neukundenpotential eher gute und preiswerte Verbindungen von der "Haustür" bis zum Arbeitsplatz sowie preisgünstige Wochenend- und Feiertagsverbindungen. Hier dürfte sich die These bewahrheiten, daß die Grundlagen für die künftige Nutzung von Verkehrsmitteln in der Kinder- und Jugendzeit gelegt werden. So dürfte die Bahn dort kaum auf künftige Neukunden spekulieren, wo durch Streckeneinstellungen Kinder und Jugendliche Züge praktisch kaum noch kennen und Schulwege, Ausflugs- und Wochenendfahrten ausschließlich mit dem Auto der Eltern zurückgelegt werden. Dabei sind es oft nur Kleinigkeiten, die die Wahl zwischen Auto und Zug bestimmen.

Doch das Potential, das die Bahn im Nahbereich unzweifelhaft besitzen könnte, wird mittlerweile seit Jahrzehnten in Frage gestellt. Mit den Streckenstillegungen, die im größeren Stil seit Beginn der siebziger Jahre zu verzeichnen sind, begann eine Entwicklung, deren Probleme sich erst heute in vollem Umfang erahnen lassen. Zudem wurden die in den neunziger Jahren angelegten Versuche, durch Sondervergünstigungen wie Wochenendticket oder "Bahncard" mehr Passagiere auf die Schiene zu locken, durch unglückliche Maßnahmen in den letzten zwei Jahren zum Teil wieder zunichte gemacht.

Nahezu ohne Vorabinformation erhöhte die Bahn den Preis des beliebten Wochenendtickets zum 1.November von 35 auf 40 Mark. Diese Erhöhung wäre sicherlich noch akzeptabel, wenn nicht parallel die Serviceleistungen gravierend verschlechtert worden wären. Ursprünglich gültig für zwei Tage, wurde schon vor eineinhalb Jahren die Dauer um die Hälfte reduziert. Doch damit nicht genug: Hinsichtlich der Bequemlichkeit mußten die Nutzer des Nahverkehrs in den vergangenen zwei Jahren weiter Einschränkungen an Komfort verzeichnen. So setzt beispielsweise die Bahn auf vielen Regionalexpreßverbindungen, deren Nutzung von Ausgangs- zum Zielbahnhof oftmals zwei bis drei Stunden dauert, verstärkt auf teilmodernisierte Doppelstockzüge, die im Gegensatz zu ihren einstöckigen Vorgängern häufig bei vier bis fünf Wagenzügen nur eine Behinderten-Toilette aufweisen, die aufgrund der nachvollziehbar großen Nutzung kaum hygienischen Standards genügen kann und zudem eine hohe Ausfallrate aufweist.

Ursprünglich waren diese Züge nur für den S-Bahn-Verkehr in den Großstädten bestimmt, was auch ihr geringer Komfort verdeutlicht: Für Reisegepäck stehen keine Gepäckfächer oder Ablagen, sondern lediglich der geringe Platz zwischen ergonomisch unzureichenden und keine Beinfreiheit bietenden Sitzplätzen zur Verfügung. Eine ausreichende Lüftung ist praktisch unmöglich, weil die kleinen Fenster lediglich angeklappt, jedoch auch bei längerem Stillstand des Zuges nicht geöffnet werden können. Trotzdem sind sie seit Jahren auf Hauptstrecken wie Leipzig–Magdeburg oder der "Sachsenmagistrale" Leipzig–Dresden im ständigen Einsatz.

Diese Generation von Nahverkehrszügen hinkt den Entwicklungen, die die Nachbarländer in diesem Bereich verzeichnen, egal ob man die Schweiz, Österreich oder auch die Tschechei betrachtet, meilenweit hinterher. Auf der anderen Seite werden die bequemeren Regionalexpreßzüge als Regionalbahnen auf Strecken eingesetzt, wie beispielsweise Dresden–Zittau, auf denen auch an Wochenenden keine große Auslastung zu verzeichnen ist. (Teil II folgt in der nächsten Ausgabe)


 
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