© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Das Kreuz mit der Presse
Journalismus: Opfer von Medienberichten sehen sich einem Dickicht aus Gegendarstellung, Unterlassung und Schmerzensgeld gegenüber
Klaus Kunze

Darf man einen anderen als "Nazi" bezeichnen? Die einfache Frage führt über juristische Hochseilakte tief in das Gestrüpp von Sinn und Unsinn dessen, was jeder vernünftige Laie uns Juristen als Wortverdreherei ankreidet. Für die richtige Antwort kommt es darauf an: Sollte "Nazi" nur ein beliebiges Schimpfwort ersetzen, oder war es als Meinung gedacht? Das erste wäre eine strafbare Beleidigung, das zweite erlaubt. So macht sich strafbar, wer seinen Thekennachbarn mit "Nazi" anbrüllt, weil der ihm ein Bier über die Hose geschüttet hat. Klug beraten wäre der Gießer freilich, vor Gericht zu erklären, der Begossene hätte ihm gerade erzählt gehabt, die Bundeswehr fände er dufte. Wenn das "Nazi" nämlich möglicherweise ein Produkt meinenden Nachdenkens war, ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erlaubt.

Vor allem in öffentlich interessierenden Fragen spricht das BVerfG sich in Zweifelsfällen immer für die Zulässigkeit der freien Rede aus. Wenn es irgendeine noch so abwegige Möglichkeit gibt, eine Beleidigung als politische Meinungsäußerung auszulegen, läßt es sie durchgehen. In politischem Zusammenhang darf darum praktisch jeder jeden als Nazi beschimpfen, wenn dem Richter nur ernsthaft erklärt wird, er halte den Beschimpften wirklich für einen Nazi.

Wenn vorgeblich "Rechte" beschimpft werden, halten sich die Gerichte meist genau an den großzügigen Spielraum, den das BverfG der Meinungsfreiheit einräumt. Kritisieren aber "Rechte" ihre politische Konkurrenz, gehen die Uhren in Gerichtssälen oft nach. So soll die Bezeichnung anderer als "braune Ratten" nach dem Landgericht (LG) Paderborn (1993) eine erlaubte Meinungsäußerung sein. "Rotlackierter Nazi" hält dagegen das LG Wiesbaden (1994) für eine Beleidigung. Die Unitarier darf man nach Meinung des OLG Hamburg (1992) als "Nazi-Sekte" bezeichnen. Aber "Altkommunisten im Geiste des Massenmörders Stalin" darf man einen anderen nicht straflos nennen, urteilte das LG Mannheim (1996).

Als Faustregel gilt: Es beleidigt, wer den anderen bloß kränken und in seiner Persönlichkeit treffen will. Wie viele Richter zu wissen glauben, darf man bei "rechten" Äußerungen grundsätzlich davon ausgehen, daß sie nur beleidigen wollen, wohingegen "linke" wohldurchdacht sind: Dem Verteidigungsminister dürfen Linke darum nachsagen, er begehe durch Entsendung von Soldaten ins Ausland eine Beihilfe zum Völkermord (OLG Naumburg 1994). Auch dürfen sie Soldaten im allgemeinen als Mörder bezeichnen.

Eine Strafe wegen Beleidigung verhängte hingegen das Amtsgericht (AG) Mannheim wegen eines Briefes eines "Rechten", ein Staatsanwalt habe "Gestapo-Methoden" angewandt. Das LG Aachen hielt es 1995 für verboten, den Düsseldorfer Innenminister unter Berufung auf die Wortherkunft und den Brockhaus als "Terroristen" zu bezeichnen, weil er Angst und Schrecken verbreite. Ein CDU-Minister durfte (OLG Düsseldorf 1986) nicht als "Oberfaschist" bezeichnet werden. Generell neigen Gerichte zu engherziger Auslegung, wenn Behördenvertreter kritisiert werden: Ein Oberstaatsanwalt gebe "eine nationalsozialistische Weltanschauung in erschütternder Deutlichkeit" zu erkennen, durfte auch ein medienbekannter Münchener Rechtsanwalt nicht sagen; über einen rechten Politiker hätte er es vermutlich straflos äußern dürfen.

Das LG Göttingen verbot, die Musikanten Böhse Onkelz eine "Neonazi-Band" zu nennen, das sei eine Formalbeleidigung, weil es ersichtlich nur um Stimmungsmache und unsachliche Herabwürdigung jenseits jeden sachlichen Inhalts gehe. Nach Ansicht des BverfG soll jeder Zweifelsfall zugunsten der Meinungsfreiheit gelöst werden. "Im Zusammenhang mit Wahlkämpfen verstärkt sich diese Regel zur" sogenannten "Supervermutungsformel", wonach gegen "das Äußern einer Meinung nur in äußersten Fällen eingeschritten werden darf". Dabei wird das Gericht häufig der persönlichen Ehre nicht gerecht, die als Ausfluß der Menschenwürde gleichen Verfassungsrang besitzt. Man darf sogar Polizeibeamte als "abkassierende Bullen" bezeichnen, wenn nicht auszuschließen ist, daß dies nicht den einschreitenden Beamten persönlich galt, sondern der Polizei im allgemeinen.

Jede Meinungsäußerung ist grundgesetzlich geschützt

Zentrale Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung mit journalistischen und juristischen Mitteln hat die Frage, ob Gegner mit Lügen bekämpft werden dürfen. Juristisch kann jede ehrenrührige, falsche Tatsachenbehauptung mit vielerlei Mitteln unterbunden werden. So verboten Gerichte Zeitungen Lügen wie: ein Republikaner-Schatzmeister sei mit der Kasse durchgebrannt, Schönhuber habe die Juden Stinker genannt, Republikaner hätten zu Brandanschlägen geschwiegen, und viele andere mehr. Ein Mitglied der Potsdamer SPD durfte nicht behaupten, in einer Zeitung würden "immer wieder Stimmen laut, die die Rückeroberung von Ostpreußen und Oberschlesien fordern".

Hingegen können Meinungen nicht verboten werden: Norbert Blüms Behauptung, Republikaner seien "Schreibtischtäter der Gewalt", ist nach Auffassung des LG Göttingen ebenso eine Meinung ohne nachprüfbaren Tatsachengehalt wie: Sie seien rechtsextremistisch, sie seien neonazistisch und so fort; ja, sogar für kommunistisch dürfte man sie öffentlich halten. Nach dem BVerfG ist jede Meinung durch Art. 5 Grundgesetz geschützt, mag sie noch so falsch oder dumm sein.

Falsche Pressebehauptungen unterscheidet man von erlaubten Meinungen dadurch, daß man Beweis über sie erheben könnte: Ob jemand wegen Verstoß gegen das Waffengesetz vorbestraft ist, läßt sich im Gerichtssaal überprüfen; ob er ein "stadtbekannter Neonazi" ist, hingegen nicht. Das erste wurde durch Gerichtsbeschluß untersagt, das andere darf weiterhin gemeint werden.

Neuerdings schützt der Bundesgerichtshof (BGH) auch gegen verdeckte Behauptungen: Wenn die Presse zutreffend behauptet, ein Bischof habe die Abtreibung seitens einer kirchlichen Mitarbeiterin nicht verhindert, steckt darin eine verdeckte Falschbehauptung, wenn der Bischof gar nichts von der Schwangerschaft wußte. Unsere Presse ist stets trickreich darin, einen falschen Eindruck zu erwecken, ohne sich auf die Formulierung festnageln zu lassen. Als Meinung ließ der BGH durchgehen, ein Manager wisse, wie man gekonnt pleite macht (was er aber tatsächlich noch nie gemacht hatte), und das OLG Hamburg (2000) erlaubte, jemand sei "Multifunktionär mit einschlägiger brauner Sektenerfahrung". Nach Horst Sendler, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, bietet die Rechtsprechung des BVerfG "hilfreiche Hinweise, Invektiven mit einem Rest von Zweideutigkeit so zu formulieren, daß sie für jeden Kenner eindeutig diffamieren, aber liebevollen Interpreten – so auch dem BVerfG – die Chance lassen, dem Schmäh dank seiner zweideutigen Eindeutigkeit eine eindeutige Zweideutigkeit zu unterschieben."

So hatte ein Strafgefangener das OLG Nürnberg in einem Brief als "Reichsparteitag-OLG" bezeichnet. Als die Justiz den (kontrollierten) Brief anhielt, sah das Bundesverfassungsgericht darin eine unzulässige Beschränkung der Meinungsfreiheit: Schmähabsicht sei keineswegs zwingen. "Die beanstandete Äußerung kann objektiv auch dahin verstanden werden, daß die vom Gefangenen als unerfreulich empfundene, von ihm auf die Rechtsprechung des OLG Nürnberg zurückgeführte eigene Situation gewissermaßen in Parallele gesetzt ist zu der Bedeutung, die der Sitzort des Gerichts in der unerfreulichen Geschichte des Nationalsozialismus hatte".

Die Abgrenzung zwischen noch erlaubter Meinungsäußerung und verbotener Schmähung gerät zum fragwürdigen Glücksspiel, zumal wenn ein Geschädigter beim Gericht keinen Sympathiebonus hat. Warum darf man über den Leiter einer Kommunalverwaltung (zu Recht) nicht sagen, er sei die "allergrößte Pfeife" wohingegen unter dem Schutz der Meinungsfreiheit zulässig sein soll, ein Fußballtrainer sei eine "linke Bazille"? Manchmal hilft in diesem Glücksspiel der Genius loci: So half er 1998 dem Adenauer-Sohn und -Erben: Das OLG Köln verbot den Republikanern die Wahlkampfwerbung, wenn Konrad Adenauer noch lebte, würde er Republikaner wählen. Auswärtige Gerichte, zum Beispiel in Mainz und München, hatten das anders gesehen. In der Heimatstadt des lokalen Säulenheiligen aber waren die Gerichte nicht davon zu überzeugen, daß hier eine Meinungsäußerung par excellence vorlag.

Wer gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen will, ist bei unserem hochgezüchteten Presse- und Prozeßrecht ohne spezialisierten Anwalt chancenlos. Für Landgerichtsprozesse herrscht ohnehin Anwaltspflicht. Als Faustregel gilt: Nachfrage beim Anwalt lohnt sich, wenn die beanstandete Pressemeldung so erträglich ist, daß es auf ein vierstelliges Prozeßrisiko nicht entscheidend ankommt und wenn sie entweder eine beleidigende Schmähung oder eine Falschbehauptung enthalten könnte. Die meisten Zeitungen arbeiten so professionell, daß viele gerichtliche Fälle Grenzfälle ohne sicher voraussagbaren Ausgang sind.

Wenn die Presse Falschbehauptungen oder Beleidigungen veröffentlicht, kann sie gerichtlich durch einstweilige Verfügung auf Unterlassung verklagt werden. Die Kosten trägt immer der Verlierer des Prozesses. Wenn eine untersagte Pressebehauptung in der Öffentlichkeit fortwirkt und den Ruf schädigt, kann gerichtlich ein Widerruf oder Veröffentlichung der einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden. Einstweilige Verfügungsverfahren dauern nur Wochen und sind damit sehr schnell. Mit ihnen kann vorläufig Unterlassung der Pressebehauptung oder Veröffentlichung einer Gegendarstellung durchgesetzt werden.

Wer sich behaupten will, muß prozessieren

Prozesse über alle anderen Ansprüche dauern Monate. Wer sich langfristig in der politischen Arena behaupten will, muß der Presse von Anfang an die Zähne zeigen und jede Verletzung seiner Rechte durchprozessieren, sonst wird er zum Freiwild. Erst wenn die Platzhirsche der jeweiligen Lokalpresse ihren ersten Dämpfer bekommen haben, beginnen sie auch Artikel über "Rechte" sauber zu recherchieren. Gegendarstellungen allein schmerzen sie ebensowenig wie bloße Unterlassungsansprüche. Müssen sie aber einem Geschädigten Schmerzensgeld bezahlen oder gar in ihrem eigenen Blättchen ein gegen sie gerichtetes Unterlassungsurteil veröffentlichen, tut ihnen das ebenso weh wie einem Geschädigten, der sich in der Presse dauernd wehrlos beschimpfen lassen mußte.

10.000 Mark Schmerzensgeld mußte 1997 eine Zeitung einem als Neonazi beschimpften, harmlosen Junge-Union-Jüngling zahlen; 5.000 Mark kostete es, jemand sei Stasimitarbeiter gewesen, und 50.000 Mark die falsche Fernseh-Verdächtigung, an Drogengeschäften beteiligt zu sein – alles beweisbare Falschbehauptungen mit bleibenden Persönlichkeitsverletzungen. Nicht jede Verletzung zieht aber ein Schmerzensgeld nach sich. Da wurde einem oft vorbestraften (tatsächlichen) Neonazi eine politische Straftat nachgesagt, die er nicht nachweisbar begangen hatte. Der Focus muß dies bleiben lassen und das Unterlassungsurteil veröffentlichen – aber Schmerzensgeld? Das ist hier ebenso fraglich wie bei der ehemaligen Porstituierten am Steuer ihres Sportwagens, leicht überfordert im Straßenverkehr, der ein wildfremder, erzürnter Busfahrer aus dem Fenster zurief: "Kannst du nicht aufpassen, du alte Nutte!" – Ich riet ihr von einer Schmerzensgeldklage ab, und auch die für eine Unterlassungsklage erforderliche Wiederholungsgefahr bestand nicht nach dieser eher einmaligen Verkehrssituation.

Nur bei schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen gibt es Schmerzensgeld. Vor Gericht hat eine von Paparazzi heimlich nackt fotografierte und abgebildete Prinzessin Chancen auf sechsstelliges Schmerzensgeld. Im politischen Raum hingegen gilt: Wer selbst in Reden austeilt, muß mehr einstecken. Zu weit ging 1993 das Magazin Prinz, als es Porträts u. a. eines unbescholtenen Publizisten mit dem Text veröffentlichte: "Die Augen des Bösen – Rostock, Mölln, rechter Terror... Man kann’s schon nicht mehr hören, aber was kann man tun? (...) Prinz übergibt die vorliegende Liste der Staatsanwaltschaft. Mit der dringenden Bitte um Haftbefehle, Höchststrafe für Volksverhetzung: 5 Jahre".

Nicht jeder rechtswidrige Eingriff in das Persönlichkeitsrecht zieht nämlich Ansprüche nach sich, und wenn, dann muß man diese zügig verfolgen. Wer in der Tagespresse geschmäht wurde und eine einstweilige Verfügung beantragt, muß dies auch binnen Tagen tun, sonst hat auch der Richter keine Eile: Dann weist er den Antrag auf einstweilige Verfügung kostenpflichtig ab und läßt dem Geschädigten nur die gewöhnliche Klage. Entsprechendes gilt bei wöchentlichen und monatlichen Zeitungen. Weil im politischen Geschäft nach Monaten vieles vergessen ist, muß ein Geschädigter praktisch immer sofort reagieren, wenn er überhaupt etwas erreichen will.

Solche Probleme vermeidet, wer spätestens nach zwei oder drei Tagen die komplette Zeitungsseite und das Impressum seinem Anwalt schickt und diesen zugleich darüber informiert, durch welche falsche Behauptung oder welche Beleidigung er seine Rechte verletzt glaubt. Verletzter ist jeder, auf den sich die Presse namentlich oder klar identifizierbar bezieht. Nicht verletzt ist dagegen Lieschen Müller, wenn die Bildzeitung titelt, Nazis hätten Joseph ertränkt, und sie ist selbst dann nicht persönlich in ihren Rechten betroffen, wenn sie sich selbst für einen Nazi hält.

Gegendarstellungen leiden oft unter formellen Mängeln

Alle verschiedenen Ansprüche – auf Unterlassung, Widerruf, Gegendarstellung und Schmerzensgeld – darf der Geschädigte gegebenenfalls nebeneinander erheben. Ihre Voraussetzungen und Rechtsfolgen sind verschieden: Der Unterlassungsanspruch stoppt schnell mit der einstweiligen Verfügung die weitere Verbreitung. Im späteren Hauptsacheverfahren kann verlangt werden, daß die Presse den Tenor der gerichtlichen Unterlassungsverfügung – auf ihre eigenen Kosten und gleichsam zu ihrer Schande – auf derselben redaktionellen Seite veröffentlicht wie ihre Falschmeldung. Dieser Anspruch setzt, ebenso wie der Anspruch auf Widerruf, den Beweis voraus, daß die Presse etwas Falsches behauptet oder durch Schmähung beleidigt hat.

Nicht nötig ist dieser Beweis für den Anspruch auf bloße Gegendarstellung, einem im Grunde zahnlosen, frontal hochkomplizierten Anspruch. Zahnlos ist er, denn die Presse vergibt sich nichts, wenn sie mit hämischen Bemerkungen druckt, was ein Betroffener wider sie behauptet. Wer die Wahrheit sagt, bleibt für den Leser offen, und er mag über den Gegendarstellenden vermuten: Wer sich verteidigt, klagt sich an.

Das Gegendarstellungsrecht ist für Betroffene mit einer Überfülle formeller Schwierigkeiten befrachtet. Jedes Bundesland hat sein eigenes Landespressegesetz mit zum Teil unterschiedlichen Fristenregelungen. Das Hauptproblem für Laien ist, daß nur falsche Tatsachen gegendargestellt werden können, und kein Wort mehr. Schätzungsweise 95 Prozent laienhafter Gegendarstellungen leiden unter schon formellen Mängeln und können von der Presse ohne Risiko in den Papierkorb gesteckt werden. Aber wer sich schon für die Formulierung der Gegendarstellung einen Anwalt nimmt, muß seine Kosten dafür selbst bezahlen, wenn der Anwalt erfolgreich außergerichtlich eine Gegendarstellung plaziert. Anders als Unterlassungsansprüche setzt die Gegendarstellung nämlich keine Rechtsverletzung durch die Presse voraus.

 

Klaus Kunze ist Rechtsanwalt und Publizist.


 
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