© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Scharpings Lesefeldzug
Geistige Mobilmachung: Bundeswehr-Soldaten sollen die Tagebücher von Victor Klemperer lesen
Irene Casparius

In welchen antisemitischen Broschüren könnte die Rede sein vom "geldsüchtigen Ostjudentum"? Oder von US-jüdischen Komitees, die zwischen 1940 und 1945 mit ihrem Geld für eine "Selektion" der europäischen Juden sorgen? Von der "tiefen Gemeinschaft" zwischen "Zionismus und Hitlerismus"? Oder von Rabbinern, die 1935 in London "den Boykott gegen deutsche Waren" predigen? Wer sich lange umtut, wird solche Zitate sicher in einschlägigem Schrifttum finden. Wer sich diese Mühe ersparen will, gehe in eine beliebige deutsche Buchhandlung und verlange eines der am meisten verkauften Werke des letzten Jahrzehnts. In den inzwischen verfilmten Tagebüchern des Dresdner Romanisten Victor Klemperer nämlich steht geschrieben, was sonst gewöhnlich indiziert wird.

Klemperers zwischen 1933 bis 1945 geführte Tagebücher, so verlautet jetzt aus dem Verteidigungsministerium, möchte Minister Scharping der Truppe als Pflichtlektüre verordnen. Zehntausend Bände der gut 1.600 Seiten umfassenden Diarien wurden beim Berliner Aufbau Verlag geordert, um der politischen Bildung in den Streitkräften nachzuhelfen. Ein schönes Geschenk gleichzeitig für Verlagschef Bernd Lunkewitz, einen der Initiatoren des "Bündnis für Demokratie und Tolerenz", dessen "Victor-Klemperer-Jugendwettbewerb" auf Scharpings Wunsch auch "junge Soldaten" einbeziehen soll. So schnell verwandelt sich Zivilcourage in bare Münze.

Einträgliche Nebeneffekte dieser Art erschließen aber nicht die wirklich peinliche Dimension von Scharpings "Operation Leseratte". Die bekommt erst in den Blick, wer überhaupt eine Vorstellung von der Komplexität jüdischen Lebens im Deutschen Reich hat und wer darum das Ausmaß von dessen aktueller geschichtspolitischer Banalisierung erkennt. Eine politisch-mediale Klasse hingegen, die von jüdischen "Mitbürgern" schwätzt, oder – anläßlich von Scharpings Lesefeldzug – wie Markus Feldenkirchen in der Süddeutschen Zeitung vom "jüdischen Schriftsteller Klemperer", hat garantiert nicht den Schatten einer Ahnung davon. Diese Ignoranz ist freilich Voraussetzung dafür, daß man sich im Museum der Geschichte bewegt wie im Supermarkt. Was günstig scheint, wird eingepackt. Immer häufiger bekommt man dabei eigentlich Unverdauliches zwischen die Finger.

Den ewig mißgelaunten, mit seinem Judentum bis zum Selbsthaß hadernden, zuerst sich, seine Frau und seine Katzen liebenden Misanthropen, der sich in seinen Tagebüchern zwischen 1918 und 1933 (nochmals 1.600 Seiten, auch die in die Spinde?) mehr um seine Berufungschancen als um die Stabilität der Demokratie Weimars sorgenden Romanistik-Professor, der sich "durchaus als Deutscher" (F. K. Fromme) fühlte und bei dem sich viel Xenophobes findet, zur Identifikationsfigur der Kampagnen gegen "Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit" zu degradieren, entspricht daher so recht bundesdeutscher Manier, Geschichte bis zur Unkenntlichkeit zu simplifizieren und zu ideologisieren. Hierin hat man inzwischen DDR-Niveau erreicht.

Da trifft es sich gut, daß Walter Nowojski die Tagebücher herausgab, der einstige Chefdramaturg des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR, der Klemperers wenig sowjetfreundliche Aufzeichnungen nach dem 8. Mai 1945 kurzerhand aus seiner Edition ausschied. Nun müßte Rudolf Scharping seinen Soldaten nur noch eine von den eingangs zitierten Passagen gesäuberte Ausgabe anbieten. Eine trivialisierte Guido-Knopp-Fassung, die dann im Tornister nicht mehr Platz bräuchte als einst "Zarathustra" oder "Faust".


 
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