© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/00-01/01 22. Dezember / 29. Dezember 2000

 
Proporz-Richter
Juristische Entscheidungen repräsentieren nicht den Volkswillen
Klaus Kunze

Amerika, du hast es besser!? – Nein, auch drüben ist Recht gerade dort eine Machtfrage, wo das besonders schmerzt; bei politischen Entscheidungen von zentralem Rang. Rechts- und demokratietheoretisch soll ein Richterspruch nur "für Recht erkennen", was im Gesetz vorgeschrieben ist. Doch in Deutschland wie in den USA glaubt niemand mehr an strikte Gesetzlichkeit höchster Richter, wenn sie zufällig gerade nach dem Proporz der Parteiungen jeweils das für Recht "erkennen", was diese sich erhoffen. Fünf "konservative", von den Republikaner-Präsidenten Reagan und Bush nominierte Richter des Supreme Court erkannten just das für Recht, was dem Republikaner-Kandidaten nützte, und die vier liberalen Richter, was dem Gegenkandidaten Gore nützen sollte. Der Frankfurter Politikwissenschaftler Kurt Shell sah in der FAZ hierdurch den "zynischen Verdacht bestärkt, daß das Urteil die ideologische und sogar parteipolitische Präferenz der Richter widerspiegelte".

Strukturell haben Deutschland und die USA dasselbe Problem mit ihren obersten Richtern: Die Idee des demokratischen Rechtsstaats weist gesetzgeberische, freie Entscheidungen möglichst einem direkt demokratisch gewählten Gremium der gesetzgebenden Gewalt zu. Richter aber haben nur anhand des Gesetzes zu kontrollieren, ob der Wille des Gesetzgebers eingehalten wurde. Der Gesetzgeber entscheidet mit Mehrheit, doch was ein Gesetz besagt, ist prinzipiell keine Mehrheitsfrage. Keine Rechtsfrage läßt sich überzeugend durch Abstimmung lösen. Beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wie beim Supreme Court mehren sich aber die Fälle, in denen jeder Beobachter aufgrund des Parteienproporz bei den Richtern die Entscheidung vorhersagen konnte.

Kurt Shell zufolge kommen die Richter mit "mehr oder weniger festen ideologischen Überzeugungen" an den Supreme Court, die "manchen ihrer Entscheidungen eine häufig voraussagbare Richtung" gäben. In einem politisch geprägten Verfahren werden sie ausgewählt, durch den Präsidenten nominiert und durch eine Senatsmehrheit bestätigt. Ändert sich die Zusammensetzung des Gerichts, erkennt es unter Umständen das Gegenteil für Recht wie vorher. Hier geht zwar nicht Macht vor Recht, doch was als Recht gilt, das machte die Macht.

Die Macht zu souveränen Entscheidungen dürfte in der Demokratie aber nur dem Staatsvolk oder allenfalls seinen legitimen Repräsentanten zufallen. Rechtsfragen sind keine freien Willensentscheidungen. Richterliche Gremien erheben nirgends den Anspruch, den Volkswillen zu repräsentieren, sie dürften allenfalls den Verfassungstext interpretieren, wie sich aus den Prinzipien der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung unbestritten ergibt. Daß sie sich statt als Hüter der Verfassung zu ihrem Herrn aufschwingen, kritisiert in Deutschland nicht nur der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon in seinem Handbuch des Verfassungsrechts.

Einerseits hat sich das BVerfG nach von Rolf Lamprecht in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) veröffentlichten Ansicht zu einem "Zentrum der Oligarchie in einer ansonsten gut demokratischen Gesellschaft entwickelt". Andererseits hängt die Zusammensetzung des Gerichts, gewöhnlich nach Parteienproporz, von einem im Grundgesetz nicht vorgesehenen, fragwürdigen Verfahren ab: Nach Art. 94 GG sollen die Verfassungsrichter je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Der Bundestag hat aber dieses Recht durch einfaches Gesetz einem Wahlausschuß aus zwölf Abgeordneten übertragen. Sie dürften die Zusammensetzung des Gerichts nach Parteiproporz ausknobeln. Die "Idee, daß sich die beiden großen Parteien die Präsidentschaft ungefähr je zur Hälfte teilen" (Friedrich Karl Fromme, FAZ) gilt nicht nur für die repräsentative Spitze des Gerichts. In der- selben Zeitung rügte der Trierer Professor Michael Kloepfer, die "Parteibuchherrschaft bei allen staatlichen Institutionen einschließlich der Gerichte (auch das BVerfG)" nehme "immer groteskere Formen an."

Doch selbst die zwölf Mitglieder des Richterwahlausschusses haben nach Formulierung des Karlsruher Juristen und ständigen Kommentators in der renommierten NJW, Thorsten Lamprecht, nicht praktisch das Sagen: "Die verbindliche Vorentscheidung darüber, wer nach Karlsruhe geht, treffen sogenannte Arbeitsgruppen von zwei bis drei Personen – und zwar hinter verschlossenen Türen." Wer diese zwei bis drei Personen sind, ergibt sich aus dem jeweiligen parteipolitischen Kräfteparallelogramm, der Opportunität und letztlich der Macht. Statt eine klare demokratische Legitimationskette aufzuweisen, verliert sich die Spur der Kontrolle über die höchsten Richterstühle Deutschlands im Dickicht des Parteienstaates.

Immerhin hat die Zusammensetzung des BVerfG aus SPD-, CDU- oder durch andere Parteien gestützten Richtern unschätzbare Vorteile für alle, die vor unliebsamen Überraschungen Angst haben. Fragen wie die eines Verbotes der NPD sind ebensowenig wie die Pro-Bush-Entscheidung des Supreme Court bloß offene Sach- und Rechtsfragen, bei denen der bessere Anwalt oder das bessere Argument zählt. Ist souverän, wer frei über seine eigenen Kontrolleure bestimmen kann?

Die jeweilige Mehrheitspartei des Bundestages setzt über den Richterwahlausschuß das höchste Gericht zusammen und kann jederzeit durch Kanzlerwahl eine andere Regierung bestimmen. Auf dem langen Weg von der Souveränität absoluter Fürsten zur Souveränität des Parlaments könnte man Deutschland als eines der fortschrittlichsten Länder bezeichnen, wenn der Begriff "Souveränität" im EU-Europa noch einen inhaltlichen Sinn hätte.


 
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