© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/00-01/01 22. Dezember / 29. Dezember 2000

 
Ein Admiral unter Buchhaltern
Nach dem Tod von Götz Friedrich ist die Zukunft des Musiktheaters ungewiß
Hans-Jörg von Jena

Götz Friedrich ist tot. Der Generalintendant der Deutschen Oper Berlin starb, siebzig Jahre alt, am 12. Dezember nach – wie es in der Mitteilung seines Hauses heißt – "kurzer, schwerer Krankheit". So plötzlich dies Ende kam – gänzlich unerwartet kam es nicht. Noch nannte ihn zwar niemand (was ja nahegelegen hätte) einen "Alten Fritz", aber wer ihn kannte, sah, wie erschreckend der Opernchef in der letzten Zeit gealtert war.

Der Abschiedsschmerz geht tief. Den Gestalter der Szene und Regenten des Hauses, den nachdenklichen Gesprächspartner über viele Jahre wird man vermissen. Er hinterläßt wirklich eine Lücke. Zwar hätte er in wenigen Monaten, zum Ende der laufenden Spielzeit, sein Amt an den designierten Nachfolger Udo Zimmermann übergeben müssen, sobald sein mehrfach verlängerter Vertrag nach zwanzig Jahren ausgelaufen war, und weitere Inszenierungspläne gab es für ihn in Berlin nicht. Aber der einer Achterbahnfahrt gleichende Kampf um die Berliner Einsparungs-Opernreform, bei dem es im Kern auch um sein Lebenswerk geht, wird voraussichtlich auch zu diesem Zeitpunkt noch voll im Gange sein.

Wollte Götz Friedrich das Haus, an dem er hing und das er geprägt hat, im tiefsten nicht anders verlassen als mit den Füßen voran? Wenn diese Vermutung stimmt, dann hat er sich im Tode noch einmal als Dramaturg bewährt. Seine Abschieds-Premiere in der Berliner Bismarckstraße, das Weihnachtsmärchen "Amahl und die nächtlichen Besucher" von Gian-Carlo Menotti, ausdrücklich als künstlerisches Vermächtnis gedacht, lag erst vier Tage zurück. Salopp formuliert: Perfektes Timing.

1930 in Naumburg geboren, hatte Götz Friedrich nach dem Abitur zunächst, wie der Vater, Rechtsanwalt werden wollen und wechselte erst, als sich das im Arbeiter- und Bauernstaat als für ihn nicht möglich erwies, zur Theaterwissenschaft. Ein Praktikum führte ihn eher zufällig an Berlins Komische Oper zu Walter Felsenstein, der schnell sein Talent erkannte und ihn zunächst als Dramaturg, dann auch als Regisseur an sein Haus band. Felsensteins Abkehr von der herkömmlichen Oper, die der Szene nur beiläufigen Wert zugemessen hatte, die Neugestaltung eines vielgestalteten Kunstwerks aus dem Geist des "Musiktheaters" wurde für Friedrich das alles entscheidende Erlebnis. Auch als er 1972, von einer Auslandsinszenierung nicht nach Ost-Berlin zurückkehrend, die künstlerische und persönliche "Freiheit wählte", hat er an Felsensteins Grundprinzipien festgehalten. Jahre als erfolgreicher freier Regisseur, die mit einem berühmten "Tannhäuser"-Skandal in Bayreuth begannen und mit einer ersten Inszenierung des Wagnerschen "Ring" in London sowie der Zeit als Oberspielleiter in Hamburg Höhepunkte hatten, führten 1981 zur Berufung in seine Berliner Position als Generalintendant der (damals noch West-) Berliner Deutschen Oper.

Worin liegt Götz Friedrichs Bedeutung? Er war ein vielseitig begabter Mann, ein klug-genialischer Praktiker der Szene ebenso wie ein Lenker seines Opernschiffes, der auf der Kommandobrücke vom Kapitän zum Admiral wuchs (und dann in schwere Wetter geriet). Theoretiker, Buchautor und Lehrer dazu. Zu dem, was man eine "Persönlichkeit" nennt, wurde er jedoch durch Konzentration. Sein Sinnen und Trachten kreiste um die immer gleiche, aber bei jedem Anlaß neu zu beantwortende Frage: Was hat es auf sich mit dem singenden Menschen? Wie wird aus dem "unmöglichen Kunstwerk Oper" Theater im Sinne der "moralischen Anstalt", über musikalischen Sinnenkitzel hinaus ein tieferer Genuß am Humanen? Gewiß eine sehr deutsche Fragestellung, aber sie hat die Welt bereichert. Nirgends gäbe sich Publikum heute noch mit "Konzert im Kostüm" und Rampensingen mit hilfloser Gestik zufrieden.

Auf einem anderen Blatt steht, in welcher Hinsicht Friedrich über Felsenstein hinauswuchs. Ein pingeliger "Realismus", der allzu oft auf musikalische Zusammenhänge wenig Rücksicht nahm, lag ihm fern. Durchaus suchte er den Sinn jeder Bühnenhandlung im Symbol zu fassen, in der Bilderfindung zusammen mit dem Bühnenbildner (Peter Sykoras "Zeittunnel" beim Berliner "Ring" ist dafür ebenso ein Beispiel wie, eben jetzt, das die Idylle störende Bahngleis im "Amahl" von Gottfried Pilz). Zugleich gelang es ihm immer wieder, sogar in Grenzfällen körperlicher Unbehilflichkeit, Sänger zu gestisch beredten Schauspielern zu machen. Wie oft kam es vor, daß eine Arie als Duett erschien, weil der stumme Partner lebendig mitagierte!

Rund vierzig Inszenierungen hat Friedrich in Berlin geschaffen, die meisten sind noch zu sehen. Richard Wagner stand je länger, je mehr im Zentrum seines Interesses, alle zehn bayreuthwürdigen Werke des Meisters hat er neu auf die Bühne gebracht. Ansonsten verstand er zu teilen. Früh (noch vor seiner Intendantenzeit) inszenierte er Mozarts "Figaro", eine nach wie vor sprühende Aufführung, aber die "Zauberflöte" beispielsweise überließ er – ebenso wie mehrere Janácek-Inszenierungen – Günter Krämer. Von Verdi stehen "Aida" und "Falstaff", "Ein Maskenball" oder "La Traviata" in Friedrichs Inszenierung auf dem Spielplan der Deutschen Oper, gleichwohl hat er den überbordend-krausen Verdi-Phantasien von Hans Neuenfels mehrfach Vertrauen geschenkt. Bei alledem ist sein Einsatz für Neues oder Vergessenes nicht zu unterschätzen, für den hier stellvertretend zwei divergierende Oedipus-Vertonungen genannt seien, Wolfgang Rihms "Oedipus" und "Edipe" von Georges Enescu.

Über Friedrich ist anläßlich seines Todes manches Unzutreffende gesagt und geschrieben worden. Ein Zyniker wurde er nicht, auch nicht in seiner letzten Zeit, als angesichts des ratlosen Wirrwarrs der Berliner Kulturpolitik gelegentlich der Sarkasmus mit ihm durchging. War er "besessen"? Aber ist das nicht jeder, der seinen Beruf als Aufgabe und nicht unter dem Gesichtspunkt sieht, baldmöglichst das rettende Gestade des Ruhestands zu erreichen? Und: War er wirklich ein "Patriarch" oder – auch wenn er sich selber im Scherz so nannte – allmählich zum "Dinosaurier" geworden? Zumindest wäre es schade, wenn es so wäre. Götz Friedrich war ein Intellektueller unter den Künstlern, ein Künstler unter den Intellektuellen. Heute meint man oft, die Leitung großer Häuser gehöre in die Hände geschmeidiger Manager. Das hat sich schon bei den Universitäten als falsch erwiesen. Statt kunstferner Buchhalter oder gar parteipolitischer Günstlinge müssen die Richtung Künstler angeben, die brennen. Friedrich brannte. An beiden Enden.


 
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