© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Anachronismus
Karl Heinzen

Walter Riester ist ein Mann von gestern, weil er die SPD immer noch als eine Plattform für Versuche mißversteht, Sozialpolitik nicht auf eine Senkung des Spitzensteuersatzes zu beschränken. Es überrascht daher kaum, daß der von seinem Haus vorbereitete Entwurf für eine Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes sich eher an den Intentionen, die den Gesetzgeber vor mehr als einem Vierteljahrhundert umtrieben, orientiert als an der ökonomischen Realität von heute. Mit der keineswegs erst unter Gerhard Schröder herrschend gewordenen Philosophie, daß die beste Politik für Arbeitnehmer jene ist, die im Arbeitgeberinteresse betrieben wird, läßt er sich jedenfalls nicht in Übereinstimmung bringen.

Fast drei Jahrzehnte lang haben die Unternehmen Mittel und Wege gesucht und gefunden, um die betriebliche Mitbestimmung mit mehr oder weniger legalen Tricks auszuhöhlen. Sie haben Betriebsgrößen durch Umstrukturierungen, Leiharbeit und angeblich freie Mitarbeiter manipuliert. Sie haben Belegschaften korrumpiert und gegen die Gewerkschaften ausgespielt. Sie haben die grenzüberschreitende Mobilität des Kapitals genutzt, um der Anwendung von nationalem Recht auszuweichen. Mehr als auf vielen anderen Gebieten haben sie hier gezeigt, welche Berge der erwerbswirtschaftliche Egoismus versetzen kann, wenn man ihm nicht in den Arm fällt. Walter Riesters Bemühungen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, ignorieren den Vertrauensschutz darauf, daß die Politik Regelungskompetenzen, die ihr die bürgerliche Gesellschaft einmal de facto entwunden hat, nicht zurückverlangen darf.

Die Enttäuschung der Wirtschaft ist aber auch deshalb groß, weil hier nebenbei ein Staatsverständnis offenbart worden sein könnte, das die öffentliche Hand nicht nur in Sorge um wirtschaftliches Wachstum sehen möchte. Es hat vielmehr den Anschein, daß da jemand liebend gern auch in die Verteilung des Wohlstandes eingreifen würde. Dahinter wiederum verbirgt sich nichts anderes als die Vorstellung, daß es noch eine andere Gerechtigkeit jenseits jener geben könnte, die der Markt bereits herstellt. Wer viel hat, will aber gar nicht unbedingt viel abgeben. Diese simple Einsicht des Juste-milieu sollte sich doch auch schon zu den Arbeitnehmerfreunden von heute herumgesprochen haben.

Walter Riester ist ein Anachronismus, und es ist ein Trost, daß er ziemlich allein auf weiter Flur ist. Arbeitnehmerpolitik von heute hat andere Visionen vor Augen als in den siebziger Jahren: Es gilt, Regelungen zu finden, die einerseits das Verlangen der Wirtschaft nach Arbeitsimmigranten nicht untergraben und andererseits genügend Anreize belassen, in unser Land zu kommen.

Respekt verdient der Arbeitsminister nur für seine Zurückhaltung im Umgang mit dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft. An dem Bedeutungswandel, der diesem unter den Auspizien der globalen New Economy widerfahren ist, wird nicht gerüttelt.


 
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