© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Soldatenfreie Provinzen
Bundeswehr: Verteidigungsministerium plant Schließung von Dutzenden Standorten / Strukturschwache Regionen sind entsetzt
Alexander Schmidt

Selten ist über eine Reform so viel spekuliert und vermutet worden wie über die der Bundeswehr und deren Neustrukturierung. Während Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) bis zuletzt erklärte, daß nur Kleinstandorte geschlossen würden, ist jetzt eine Liste in die Öffentlichkeit gelangt, nach der 40 Standorte geschlossen und weitere 39 "stark reduziert" werden sollen. Nach einem geheimen Planungsentwurf des Verteidigungsministeriums vom 6. Dezember sollen besonders stark die Bundesländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern betroffen sein.

Trotz sofortigen Dementis des Ministeriums hat sich eine aufgeregte Diskussion um die "Giftliste" entzündet, nicht zuletzt von den betroffenen Ländern, die über die Zeitung von den Plänen Scharpings erfahren mußten. Der Leiter der bayrischen Staatskanzlei Erwin Huber (CSU) vermutet hinter dem Bericht der Welt eine gezielte Indiskretion aus Berlin. In dem Dementi heißt es, daß sich das Blatt auf ein unvollständiges und mittlerweile überholtes Zwischenpapier beziehe. "Der Bundesminister der Verteidigung hat mehrfach betont, daß neben militärischen Kriterien auch das Umfeld von Standorten – die regionale Wirtschaftskraft, die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die allgemeine Ausbildungssituation – zu berücksichtigen sind", heißt es in der Stellungnahme. Erst nach dem tatsächlichen Abschluß der Planungen werde Scharping das Gespräch mit dem Bundestag und den Ministerpräsidenten der einzelnen Ländern suchen.

Mit definitiven Entscheidungen sei erst gegen Ende März 2001 zu rechnen, so der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst Bernhard Gertz. Letztlich sei die Liste so ungenau, daß keiner der 605 Bundeswehrstandorte in Deutschland, der nicht in der Liste genannt ist, als "sicher" bezeichnet werden könne. Dennoch wirft er Scharping Augenwischerei und Täuschungsmanöver vor, da er so getan habe, als genüge es, die 169 Kleinstandorte mit weniger als 50 Dienstposten zu überprüfen. Die einschneidenden Folgen der Umstrukturierung seien für Experten klar gewesen. Den Betroffenen empfiehlt Gertz, "auf die Barrikaden zu gehen".

Beispiel Sachsen: Schneeberg in Sachsen, Heimat des Jägerbatallions 37 "Freistaat Sachsen", soll nach der Welt-Liste geschlossen werden, obwohl der Erhalt des Standortes nach Angaben von Landtagsabgeordneten unverzichtbar sei.

Auch die Entwarnung des Ministeriums, die Listen seien falsch, konnten im Freistaat nicht für Ruhe sorgen. Inzwischen sind dort nämlich weitere Listen aufgetaucht, aus denen eine Umlegung des Wehrbereichskommandos VII von Leipzig nach Erfurt geplant wird. Die Instandsetzungseinheiten in Naunhof bei Leipzig und Zeithain bei Riesa sollen aufgelöst, die Jäger aus Schneeberg und Marienberg verlegt oder verringert werden.

Weitere Planungen im Ministerium laufen noch, der Befehlshaber im WBK VII, Generalmajor Werner Widder spricht davon, daß künftig Wehrbereich und Division getrennt würden.

Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) fürchtet eine zu große Schwächung der Wirtschaft, die in den östlichen Bundesländern immer noch weniger gut entwickelt ist als im Westen. Deshalb wandte sich Biedenkopf schon im Sommer vorigen Jahres an Scharping und bat darum, die östlichen Bundesländer an den Strukturentscheidungen zu beteiligen.

Bei seinen Kollegen aus dem Westen stößt Scharping auch nicht auf viel mehr Verständnis. Die sozialdemokratisch regierten Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein sollen besonders stark von Schließungen betroffen sein, im Freistaat Bayern fallen nach den vorläufigen Planungen ebenfalls zehn Standorte unter den Hammer. Fatal sind die Folgen für Niedersachsen, da man dort immer noch die Nachwirkungen des Truppenabbaus von 1990 verarbeiten müsse. Ebenfalls geschlossen werden soll die Berliner Blücher-Kaserne, aufgelöst werden sollen die Panzergrenadierbrigade 7 sowie das Panzergrenadierbatallion 72 mit insgesamt 1180 Dienstposten.

Seit Bekanntwerden der Liste ist der Minister stark unter Beschuß geraten. Zum einen müssen Abgeordnete, die in ihrem Wahlkreis von Schließungen betroffen sind, mit großen Problemen rechnen. Bundeswehereinheiten vor Ort waren außerdem immer ein konstanter und nicht zu vernachlässigender Faktor für die ansässige Wirtschaft. Folgen von Standortschließungen wären vielerorts nur schwer zu kompensieren.

Nicht abzusehen sind auch sicherheitspolitische Folgen einer neustrukturierten Bundeswehr, die nicht mehr über die gesamte Fläche Deutschlands verteilt und so auch präsent ist. Die lange Friedenszeit hat den Fehlschluß aufkommen lassen, daß keine äußere Bedrohung mehr vorhanden sei. Die Gefahr von internationalem Terrorismus wurde hier vernachlässigt, gegen den eine in der Fläche verbreitete Bundeswehr besser schützen kann als einzelne Großkasernen.

Ein Heimatschutzbataillion vor Ort kann im Falle von Katastrophen und Anschlägen größeren Ausmaßes besser und schneller eingreifen als eine Einheit vom nächstgrößeren Standort. Diesen Risiken wurde in der Neustrukturierung keine Rechnung getragen.

Paul Breuer, verteidigungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, vermutet hinter den Standortschließungen andere Gründe als die von Scharping angegebenen. "Offensichtlich ist hier vor allem in attraktiven Stadtlagen der Marktwert von Grundstücken für einen späteren Verkauf wichtiger als die Vorteile einer weiteren Nutzung durch die Bundeswehr", so Breuer. Dieses "Verhökerungskonzept" bedeute, daß die Bundeswehr zunehmend aus der Mitte der Gesellschaft hinausgedrängt werde und sich die ohnehin schon vorhandenen Nachwuchsprobleme dadurch weiter verschärften.

"Die geplanten Schließungen widersprechen dem erklärten Ziel des Bundesverteidigungsministeriums, Bundeswehrstandorte in ländlichen und strukturschwachen Räumen wegen der besonderen wirtschaftlichen Bedeutung möglichst zu erhalten", heißt es beim Deutschen Städte- und Gemeindebund, der eine Mitspracherecht für kommunale Spitzenverbände und betroffene Städte und Gemeinden einfordert.

Der FDP-Wehrexperte Günther Nolting erklärte, daß Scharping mit seinen Vorankündigungen entweder das Parlament belogen habe oder nicht mehr Herr seines Ministeriums sei. Weiter hält ihm Nolting vor, daß Scharping mit einer "unerträglichen Arroganz" Abgeordnete abgekanzelt habe, die angezweifelt hätten, daß es zu keinen Schließungen von Bundeswehrkleinstandorten kommen würde. Dies hatte der Minister damals als "haltloses, dummes Zeug" abgetan.


 
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