© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Ein Staatspräsident im Kreuzfeuer
Frankreich: Jacques Chirac stolpert wie Helmut Kohl in eine undurchsichtige Finanzaffäre
Charles Brant

Für Jacques Chirac geht in letzter Zeit alles schief, und für seine Parteifreunde erst recht: Chiracs früherer Kabinettsvorsitzender im Pariser Rathaus, Michel Roussin, wurde verhört und unter Beobachtung gestellt, Alexandre Benmakhlouf, Generalstaatsanwalt von Paris und ehemaliger Berater Chiracs aus dessen Zeiten als Pariser Bürgermeister, gar vom Dienst suspendiert. Der ehemalige Justizminister Jacques Toubon, auch er ein Getreuer des Präsidenten, ist ebenfalls aus dem politischen Gefecht gezogen, solange seine Rolle in den Skandalen geprüft wird.

Die unangenehmen Folgeerscheinung der verschiedenen Korruptionsaffären fügen sich geradezu nahtlos in den katastrophalen Zustand ein, in dem sich die Pariser Stadtverwaltung ohnehin befindet. Und als ob das Scheitern des Nizzaer EU-Gipfels der französischen Regierung nicht schon genug Kopfschmerzen bereitete, macht eine Partei der parlamentarischen Rechten gegen Chirac Stimmung. Dazu kommen die üblichen Probleme der "Kohabitation", der Regierungskoalition mit den Sozialisten. Im März dieses Jahres wird ein Urnengang die Entscheidung bringen: Darf Philippe Seguin sich seines Triumphes über den amtierenden Bürgermeister Jean Tibéri sicher sein?

Mitte Dezember sah sich der französische Präsident gezwungen, sein bisheriges Schweigen zu dem Skandal um die Parteienfinanzierung zu brechen, indem er dem Fernsehsender TF 1 ein fünfzigminütiges Interview gab. Er nahm Stellung zu dem System schwarzer Kassen, das erst durch die berühmte Videokassette des Immobilienmaklers Jean-Claude Méry aufflog (die JF berichtete). Angeblich wußte Chirac von nichts, weder von illegalen Provisionen noch von diesbezüglichen Übereinkünften. Sollte er vor den Untersuchungsrichter geladen werden, so werde er sich weigern, als Zeuge aufzutreten – diese Haltung rechtfertigte Chirac unter Berufung auf sein Amt. Sich selber sieht Chirac als "ewiges Opfer" einer "Sensationsjustiz" und gewisser "Unverantwortlichen", die ihn politisch zu unterminieren versuchen.

Zu den Plänen der Regierung bezüglich der korsischen Autonomie befragt, gab sich Chirac zurückhaltend. Dieselbe Vorsicht ließ er auch zu der ins Auge gefaßten Umkehrung der Wahlen im nächsten Jahr walten, die vorsieht, die Präsidentschaftswahl der des Parlaments vorzuziehen. Um so entschiedener stellte er sich einem Gefühl entgegen, das derzeit unter der französischen Bevölkerung vorherrscht, indem er treuherzig versicherte: "Es gibt momentan in Frankreich weder eine moralische noch eine politische Krise."

Hat er die Franzosen überzeugen können? Seine Parteifreunde hatten daran keine Zweifel. Aber wie dem auch sei: Einen Zuschauerrekord hat Chirac in jedem Fall erzielt. Zwölf Millionen Fernsehzuschauer verfolgten seine höchstpersönliche Intervention. Doch die Atempause war nur von kurzer Dauer. Schon am nächsten Tag antwortete Francois Bayrou, Vorsitzender der UDF, mit den folgenden Worten: "Mir scheint, daß die moralische und politische Krise, in der wir uns befinden, alle politischen Verantwortlichen mobilisieren müßte, nach einer Lösung zu suchen." Wie diese Lösung seiner Meinung nach auszusehen hat, wiederholte Bayrou bis zum Abwinken: Die Stunde sei gekommen, den Franzosen einen anderen Weg anzubieten als die Wahl zwischen Chirac und dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin.

Moralische und politische Krise? Diese Wahrnehmung trägt einerseits der Unhaltbarkeit der "Kohabitation" zwischen Gaullisten und Sozialisten Rechnung. Zum anderen hat man das Gefühl, die politische Klasse habe den Anschluß an die tatsächlichen Gegebenheiten im Land und an die Anforderungen, die ihr gestellt werden, verpaßt. Die Krise zeigt sich immer wieder in dem politischen Desinteresse der Franzosen und in ihrer Weigerung, sich durch Stimmabgabe am demokratischen Prozeß zu beteiligen. An dem Volksentscheid über die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten nahmen weniger als dreißig Prozent der Wahlberechtigten teil. Manche Politiker glauben dieser Krise durch eine institutionelle Reform beikommen zu können. Der erste Punkt auf ihrer Tagesordnung ist eben diese Amtszeitverkürzung auf fünf statt wie bisher sieben Jahre – ein Vorschlag, der ursprünglich vom Ex-Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing stammt. Der zweite nahm durch den gemeinsamen Vorstoß der Ex-Premiers Raymond Barre und Michel Rocard Gestalt an, die zeitliche Abfolge der Wahlen umzukehren. Mit dieser Aussicht hat sich Jospin, der ursprünglich dagegen war, inzwischen abgefunden, nachdem sich in Prognosen ein Stimmenverlust der sozialistischen Partei abzeichnet.

Die Umkehrung des Wahlkalenders, über die am 19. und 20. Dezember in der Nationalversammlung debattiert wurde, wird von den Sozialisten und einem Teil der UDF unterstützt. Wieder war es Giscard d’Estaing, der sich zu ihrem Verteidiger aufschwang und gleichzeitig als Gewährsmann für ihre Verfassungskonformität diente. Denn die französische Verfassung macht den Präsidenten zum "Schlußstein" des institutionellen Gebäudes. Der gaullistische RPR, die Liberaldemokraten, die Kommunistische Partei sowie die Grünen sind gegen die Änderung. Letztendlich wurde der Vorschlag in erster Lesung mit 300 zu 245 Stimmen angenommen. 25 Abgeordnete der UDF, darunter Giscard und Barre, stimmten dafür. Das Wahlergebnis zeigt deutlich das Ende der Hegemonie der RPR auf der politischen Rechten.

Die Bewegung, die sich gaullistisch nennt, scheint am Ende ihrer Glaubwürdigkeit angelangt. In Paris ist ihr Bankrott unübersehbar. Dreißig Jahre, nachdem ihr Begründer von der politischen Bühne abtrat, lebt sie lediglich als Schatten ihrer selbst weiter, bestehend aus überalteten Figuren, die einst als große Hoffnungsträger galten. Das Ende des Kommunismus, der eingeschlagene Weg in Richtung europäische Union Zukunft, die Kohabitation, der Eifer der Richter waren für sie nicht weniger fatal als ihr eigenes Politikverständnis. Die Gaullisten haben ihre Existenzgrundlage verloren. Charles Pasqua hat das längst erkannt und deswegen an seinem einsamen Weg an der Spitze des totgeborenen RPF festgehalten.

Die Persönlichkeit des Jacques Chirac hat wahrscheinlich dazu beigetragen, den Niedergang dieser politischen Denkrichtung – "ein Faschismus ohne Doktrin", nannte sie Saint-Exupéry – zu beschleunigen. Inzwischen ist der Gaullismus zu einer Wahlmaschinerie verkommen. Eine Tragik der französischen Rechten liegt sicherlich darin, sich in diese Reinkarnation des Bonapartismus, diesem diffusen Gemisch aus oberflächlichem Voluntarismus, Populismus und Opportunismus verrannt zu haben, das nur dank des historischen Unglücks der französischen Nation überhaupt an die Macht gelangen konnte.

Noch bis vor kurzem konnte der RPR sich auf die volle Unterstützung der UDF verlassen. Heute kann er das nicht mehr. Edouard Balladur – dessen Stunde wohl gekommen ist – kann den orthodoxen Gaullisten spielen und die Vorteile einer "Fusion" herbeireden, soviel er will, während Alain Juppé prophezeit, daß der "Wille zur Vereinigung siegen wird" – in Wirklichkeit ist die Tendenz gegenläufig. Alain Madelin, der Vorsitzende der Liberaldemokraten, will lieber auf eigenen Füßen stehen. Er ist offenbar entschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren, so sehr ihm die Mehrzahl seiner politischen Freunde davon abzuhalten versucht. François Bayrou hat ähnliche Pläne, und er könnte durchaus in der Lage sein, die Gunst der Stunde zu nutzen, um der Christdemokratie zum Aufstieg zu verhelfen. Bei den einen wie bei den anderen ist das Bedürfnis offenkundig, die Optik und die Regeln des Spiels zu ändern.

Chirac wird es nichts nützen, sich auf die Verfassung zu berufen, wenn er den geschichtlichen Fortschritt bremsen will. Daß jenes anachronistische Monumentalwerk in Europa nicht seinesgleichen kennt, wenn es um das Ausmaß der Macht geht, die es auf einen einzelnen Menschen überträgt, ist kein Geheimnis. Und daß Chirac der erste war, der ihren Geist verriet, indem er in die Falle der Kohabitation tappte, ebensowenig.


 
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