© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Angst vor den vertanen Jahren
Alkohol und Autor: Von heiligen Trinkern und nüchternen Klempnern
Silke Lührmann

Der Autor ist tot, weiß die Litera turwissenschaft seit vielen Jah ren. Neuerdings weiß sie auch, warum: Er ist an Leberzirrhose gestorben. So sieht es jedenfalls Donald W. Goodwin, der selber kein Literaturwissenschaftler ist, sondern emeritierter Professor für Psychiatrie und Alkoholismusforscher. Deshalb hat er auch keine Skrupel, die seit der Moderne so verpönten biographischen Daten beim Lesen eines Werks heranzuziehen. Getreu dem Titel seiner Studie interessiert ihn derer vornehmlich eins: "Alkohol & Autor" untersucht die Wechselwirkungen – "Synergien", würde man gesellschaftstechnisch professionell sagen – zwischen Trunksucht und schriftstellerischem Erfolg.

Goodwin geht von der erstaunlichen Beobachtung aus, daß unter sieben amerikanischen Literaturnobelpreisträgern mindestens vier Alkoholiker waren. Deren Trink- und Schreibgewohnheiten nimmt er unter die Lupe und kommt zu dem Schluß, daß ihr Alkoholismus weder rein soziokulturell noch rein genetisch bedingt war: "Alkoholsüchtige Schriftsteller erwecken den Eindruck von traurigen Menschen, die vielleicht auch unter ernsthaften Depressionen leiden, welche auf ihren Alkoholismus zurückgehen. Offenbar gibt es Erbfaktoren für Depression, für Alkoholismus und für literarisches Talent." Andererseits hat Alkohol "spezifische heilsame Eigenschaften, welche zu den Bedürfnissen eines Schriftstellers passen". Nebenbei erfährt man, daß auch Friedrich Schiller Alkoholiker gewesen sei.

Wenn er könnte, würde Goodwin die Literatur wohl verbieten, die so viele Menschen unnötig unglücklich gemacht hat, und alle Schriftsteller zwingen, Briefträger zu werden. Die haben nämlich in den USA die geringste Alkoholikerrate, und das ist kein Wunder, denn "Briefe auszutragen ist nicht gerade der Job, für den sich ein Mann entscheiden würde, der öfter mal mit einem Kater aufwacht". Daß derlei Verordnungen nichts nützen würden, weiß Goodwin selbst. Gegen die Anziehungskraft des Anrüchigen im puritanischen Nordamerika ist er, der "Bücher und Alkohol etwa im gleichen Alter: mit sieben" entdeckte, keineswegs gefeit. An seinem College war weder Alkohol noch D. H. Lawrences "Lady Chatterley’s Lover" erlaubt; im späteren Berufsleben als Journalist "fehlte irgend etwas, denn jetzt waren die Drinks legal".

William Faulkner, einer der betroffenen Nobelpreisträger, war zwar nie Briefträger, aber immerhin Leiter des universitären Postbüros – mit desaströsen Konsequenzen, wie Goodwin genüßlich ausmalt: "Die Post stapelte sich, die Öffnungszeiten waren ungewiß, die Buchhaltung konfus, und die Beschwerden der Kunden stießen auf Stillschweigen oder Gegenbeschuldigungen – unterdessen trank Faulkner, schrieb Gedichte und unternahm lange Spaziergänge." (Seine Kündigung kommentierte Faulkner "mit der Bemerkung, er würde nie wieder ’nach der Pfeife irgendwelcher Hurensöhne tanzen, die sich zufälligerweise zwei Cents für eine Briefmarke leisten können.‘") Wäre Alkoholismus unter Klempnern ähnlich verbreitet wie unter Schriftstellern, sagt Goodwin richtig, dann litten sämtliche Toiletten der Nation unter chronischer Verstopfung. Schriftsteller sind schlimmstenfalls geistige Brandstifter, die keinen wirklichen Schaden anrichten können.

Alkoholiker haben Probleme. Autoren auch, sonst würden sie nicht schreiben, oder jedenfalls nur Profitables. Umgekehrt wird auch ein Strick draus, und der paßt vielleicht sogar besser. Begnadete Trinker machen noch lange keine zuverlässigen Arbeitnehmer. Sie empfinden es als Zumutung, sich Morgen für Morgen frischgebügelt und glattrasiert dem Chef präsentieren zu müssen. "Strukturen" brauchen sie nicht; ihre Routine ist der Durst. Geld allerdings benötigt auch der begnadetste Trinker, und da hat er die Wahl: Er kann sich an öffentlichen Plätzen zur Schau stellen, sich in U-Bahn-Schächten oder Kaufhauseingängen für ein paar Groschen bemitleiden und beleidigen lassen. Oder er kann seine Visionen an Menschen verkaufen, die keine haben, weil ihre Leben voller Strukturen sind.

Danny Boyles Verfilmung von Irving Welshs "Trainspotting" – eine vermeintliche Verherrlichung des Drogenmißbrauchs – beginnt mit einem großartigen Monolog, der all die Gründe aufzählt, heroinsüchtig zu werden, statt eine Vierzig-Stunden-Woche zu arbeiten und samstags den Rasen zu mähen. "Choose life!" heißt es zum Schluß ironisch: "Entscheide dich fürs Leben!" Am Ende des Films steht "Choose life" als ernüchterte Erkenntnis, daß die einzige Alternative zum Leben der Tod ist.

Zeitgeschichtlich folgte auf die exzessiven sechziger und siebziger Jahre ebenfalls eine neue Nüchternheit. Die Konsumwirtschaft läßt Kultur "managen" und erwartet sogar von Dichtern eher Seriosität als Inspiration – zumal jede Buchveröffentlichung als unvermeidliches, möglichst zu minimierendes finanzielles Risiko gilt. Kreativität ist zu einer Reklame verkommen, die sich Unternehmen gerne auf ihre Hochglanzbroschüren schreiben – gleich unter "Dynamik". Künstler wie Neil Young und Lou Reed merkten überrascht, daß sie noch am Leben waren, und begannen von den Übeln der Drogensucht zu singen. Tom Waits hat heute bei Konzerten ein Glas Wasser auf dem Klavier stehen. Das Fitneßstudio hat die Kneipe längst als Szenetreff abgelöst.

Der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer, der sich selbst als "maßvollen Trinker" bezeichnet, obwohl er, wie Goodwin anmerkt, "unter Alkoholeinfluß einige ziemlich extreme, beinahe tödliche Dinge getan hat" – nicht zuletzt den versuchten Mord an seiner Ehefrau –, sah schon 1963 eine seelenlose Massengesellschaft, in der "Menschen so austauschbar wie Gebrauchsgüter, die Extreme ihrer Persönlichkeiten ausgemerzt" werden. In einer bemerkenswerten Passage aus seinen Wahlkampfnotizen "Presidential Papers" sprach Mailer von einer "Katastrophe für die Zukunft der Phantasie", konzedierte jedoch, daß "Milliarden von Menschen zunächst davon profitieren könnten, indem sie endlich genug zu essen haben".

In diesem Spannungsfeld zwischen Vernunft und Versuchung, Pragmatik und Poetik zu leben, ist auf Dauer unerträglich. Es ist um so unerträglicher, wenn geistige Zerrissenheit zum Arbeitswerkzeug gehört. Ein Schriftsteller muß sich schulen, jeder noch so leisen Stimme im eigenen Kopf zuzuhören. So werden Persönlichkeitsspaltungen zur Berufskrankheit – "der Extremfall des Einzelgängers ist der Schizophrene, der im Gefängnis der Phantasie lebt" –, und Autoren berichten von einer radikalen Einsamkeit, die sich anfühle, als sei man "ohne Haut zur Welt gekommen", mit "bloßliegenden Nervenenden". Wie kaum eine andere Droge taugt Alkohol als Narkose und Muse zugleich. Oder, wie Helmut Krausser scherzhaft formuliert: "Bei wenigem, was ich sage, bin ich mir 24 Stunden des Tages absolut sicher. Vielleicht treten in meinen Texten deshalb so viele Alkoholiker auf, so kann ich immer behaupten: ’Na ja, aber als er das und das gesagt hat, war er natürlich schon sturzbetrunken.‘"

Daß zwischen Kunst und Trunkenheit eine enge Affinität besteht, ist weder überraschend noch neu. Im Idealfall wirkt Kunst selber als bewußtseinsverändernde Substanz. Sie hilft, Alltägliches aus fremden Augen zu sehen. Kunst ist – nicht nur als halluzinatorisch ver-rückte Welt des Surrealismus – Rausch, Ausnahmezustand, Ekstase; sie macht den Wahn zum Sinn und den Sinn zum Wahn. Wie Goodwin berichtet, gibt es Indizien, daß "schon die Höhlenmaler Säufer" waren. Laudanum beflügelte die seherischen Fähigkeiten der englischen Romantiker, ließ Samuel Taylor Coleridge den grandiosen Palast des Kublai Khan erträumen. Wieviel von Dostojewskis Sprachgewalt verdanken wir dem christlichen Glauben an die Erbsünde, wieviel der menschlichen Reue nach dem Kater? Aldous Huxley, der die zivilisationskritische Satire "Schöne neue Welt" schrieb, experimentierte mit LSD, um die "Türen der Wahrnehmung" weit aufzustoßen, ebenso wie später die Dichter der "Beat-Generation" im Gefolge des ehemaligen Marinesoldaten Ken Kesey, der die für kriegerische Zwecke entwickelte Droge einer friedlichen Nutzung zuführte. Carlos Castaneda nahm das bei indianischen Zeremonien eingesetzte Peyote. Die Erfahrungen, die Ernst Jünger etwa im "Besuch auf Godenholm" (1952) und vor allem in "Annäherungen. Drogen und Rausch" (1970) verarbeitete, machten ihn zeitweise zum unfreiwilligen Ersatzguru der "68er".

In der deutschsprachigen Literatur hat auch Joseph Roths "Legende vom heiligen Trinker" (1939) Spuren hinterlassen, denen in den 1990ern Helmut Krausser mit seiner Trilogie um die Figur des Hagen Trinker folgte: gesellschaftlich gescheiterte Existenzen, deren von Zeichen und Wundern durchtränkten Geschichten dennoch zu bannen vermögen. Hans Fallada schrieb seinen inzwischen mit Harald Juhnke in der Hauptrolle des Erwin Sommer verfilmten Roman "Der Trinker", als er 1944 einige Monate in der Strelitzer Landesanstalt einsaß, nachdem er im Streit auf seine geschiedene Frau geschossen hatte. "Solange ich schreibe, vergesse ich die Gitter vor dem Fenster." Ganz ähnlich liest sich die Funktion, die für Sommer der Alkohol ausübt: ".. und ich werde trinken, nach so vielen Jahren der Entbehrung endlich wieder trinken, Schluck für Schluck, in langen Abständen, voll das unendliche Glück auskostend. Und ich werde noch einmal jung werden, und ich werde die Welt blühen sehen mit allen Frühlingen und allen Rosen und den jungen Mädchen von eh und je. Und wenn mir so geschieht in meiner Todesstunde, werde ich mein Leben segnen, und ich werde nicht umsonst gelitten haben."

Dem wohl begnadetsten und dabei gnadenlosesten aller literarischen Säufer, Charles Bukowski – der als langjähriger Postsortierer haarscharf einer Briefträgerlaufbahn entronn –, war Trinken und Schreiben eins. "Für die meisten Leute erweist es sich im Endeffekt als destruktiv. Ich gehöre da nicht zu. Ich mache meine ganze schöpferische Arbeit, wenn ich betrunken bin", erklärte er 1987 in einem Playboy-Interview mit dem Schauspieler Sean Penn. "Die Angst vor den vertanen Jahren / lacht zwischen meinen Zehen", dichtete Bukowski. "Ich werde dieses Blatt aus der Maschine ziehen / mir noch ein Glas einschenken / ein weiteres Blatt einspannen / das frische neue Weiß schwängern."

 

Literatur: Donald W. Goodwin: Alkohol & Autor. Aus dem Amerikanischen von MIchael Pfister. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000, 336 Seiten, 18,90 Mark


 
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