© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Medien: Ein Nachruf auf 30 Jahre Hitparade
Ein Dinosaurier stirbt leise
Jutta Winckler

S paniens Gitarren verstummen ebenso wie die Kleinen Schlümpfe. Trödler Abraham ist dahin und das Festival der Liebe bloß noch Erinnerung. Karel Gott und Biene Maja finden nie mehr zueinander, im deutschen Schlager, und Heino besingt seine schwarze Barbara, wo immer er mag, bloß nicht mehr auf der Showtreppe der "ZDF-Hitparade". Eine westdeutsche Institution ist dahin: am 16. Dezember 2000 sendete das Zweite Deutsche Fernsehen die letzte Folge seines Schlagerwettsingens.

Für den Erfinder dieses TV-Mythos, den vormaligen Autoverkäufer Dieter-Thomas Heck, war es das durchaus. Der zungenfertige Geschwindsprecher war einunddreißig Jahre, als er am 18. Januar 1969 erstmals die Sangeskünstler in und die Techniker hinter den Kulissen herunterratterte. Sein Stakkato wurde zu seinem Markenzeichen. Später kam eine kiloschweres Goldkette am Handgelenk hinzu. Mit Kassengestell auf der Nase und überlangen Koteletten präsentierte Heck der soeben aufmüpfig gewordenen Jugend Westdeutschlands deutsche Popmusik, soweit die sich dem Rubrum "Schlager" zuordnen ließ – ordnen und schubladisieren zählt hierzulande, heute wie damals, zu den deutschen Lieblingsbeschäftigungen. Zu besten Zeiten sahen und hörten Heck und seinen ZDF-Musikordnern über 25 Millionen Volks- bzw. Schlagergenossen zu. Die Zaungäste von "drüben" nicht mitgezählt ...

Der kleinere Teil der gespaltenen Nation, soweit für populäre Unterhaltungsmusik überhaupt erwärmbar, wandte sein Ohr nach Westen, über den Ärmelkanal, und berauschte sich an anglo-amerikanischer Rockmusik. Zum Grauen ihrer Eltern und Großeltern, waren die doch durch die Schule des Hohenfriedbergers, des Badenweiler- und des Radetzky-Marsches gegangen. Der gesellschaftliche Konsens über das akustisch-ästhetisch Schöne zerbrach, die Kluft zwischen den Generationen wurde abermals breiter. Sofort erkannte der rheinpfälzische Adenauer-Kanal unter Intendant Holzammer, einem Ex-Propagandakompagniereporter und Universitätsphilosophen, seine metapolitische Mission und sprang für die deutsche Identität in die Bresche. "Ausgewogenheit" aber ist bei öffentlich-rechtlichen Abstrahlern der Name Gottes: Für die internationalistische Öffnung (eo ipso in westliche Richtung) stellte Holzammer dem Heckschen Schlagerkosmos die von Ilja Richter, einer echten Kodderschnauze aus West-Berlin, präsentierte "ZDF-Disco" an die Seite. Heck aber gab 1984 das Mikrophon an den wenig charismatischen Viktor Worms ab.

Worms brachte es zum ZDF-Unterhaltungschef, die Schlagersendung aber bröckelte unter seiner Moderation zuschauerzuspruchmäßig massiv ab. 1990 thronfolgte ihm der knapp 30jährige Uwe Hübner, der im Prinzip einen Schadensbegrenzungsauftrag wahzunehmen hatte. Industrie, Interpreten und Publikum bekundeten ihr Desinteresse an der angejahrten Schlagerjolle aus Mainz. Zumal das ZDF mehr und mehr gegen den Ruf anzusenden hatte, zum Spartenkanal des gesamtdeutschen Rentnertums geworden zu sein. Inmitten einer zunehmend sich sämtlicher Hemmungen begebenden Markt-, Leistungs- und Ellenbogengesellschaft war allen Beteiligten die Unlust anzumerken, sich dem Wettbewerbscharakter der Sendung zu stellen. Denn zu Hause, auf der Couch, auf der Auslegware von Ikea, lauerten die Konsumenten und stimmten via TED gnadenlos ab, was ge- bzw. durchfiel. Die der Ausstrahlung folgende Umsatzwoche war dann Triumph oder Desaster.

Yuppie Hübners welken Schlagerlorbeer nahm am Ende nur mehr ein knappes Milliönchen wahr. Eine für die Branche uninteressante Größenordnung. Die Götterdämmerung nahm ihren Lauf: Das Walkürenroß des deutschen Schlagers versank im zerstreuungspolitischen Mahlstrom postmoderner Bedürfnismodellierung, verschärfter Verwertungspraxis und öffentlich-rechtlicher Schlafmützigkeit. Immerhin beweint vom dahingeschmolzenen Häuflein nibelungentreuer Schlagerverehrer. Der Spott von TV-Spättalker Harald Schmidt, quotenmäßig in der Nähe der Hübner-Hitparade, ist dem Nicht-Ereignis gewiß.

Ganz in Weiß erklingt dann Haralds "Hossa!" als Nachruf auf Sexy-Rexy, den allzufrüh verewigten Gildo, dem seine TV-Bühne flugs nachgestorben zu sein scheint. Kein bißchen Nicole-Frieden in Sicht, "Onkel Jürgen" Drews’ Bett im Kornfeld auf ewig leer und selbst Tunten-Idol ("Marleeen") Marianne Rosenberg gehört nicht mehr zu ihr, sprich: der legendären ZDF-Hitparade. Nie mehr fährt Michaela mit Theo nach Lodz, um jenseits von Eden bei Nino de Angelo zu erfahren: Tränen lügen nie. Uwe Hübner macht als letzter die Türe zu und legt ein Schlager-Sabbatjahr ein. Neben seiner Interview-Sendung "Bei Hübner" unter Privatfunker Premiere-World will er sich als Rot-Kreuz-Botschafter im Rahmen eines "sozialen Jahres um Alte und Kranke kümmern". In Mendocino, im Zug nach nirgendwo oder immer wieder sonntags, wenn die Erinn’rung kommt?

Bedeutet der 16. Dezember 2000 das endgültige Aus für die heile Welt? Liegt der deutsche Schlager zukünftig völlig brach? Mitnichten. Erstens geht die Abstimmung an der CD-Kasse weiter: In der BRD wird erheblich mehr mit deutschsprachiger Unterhaltungsmusik umgesetzt als mit anglo-amerikanischer – ein gut gehütetes Branchengeheimnis! Zweitens hat das ZDF für dieses Jahr zehn Abende mit hitparadentypischen Schlagerstimmen vorgesehen, zwei davon mit Hübnerscher Ansage. Ebenfalls im Gespräch ist Schlager-Dadaist und Steffi-Graf-Troubadour Guildo Horn ("Guildo hat Euch lieb"), der von Trier aus, seiner "Nußecken-Metropole", für eine wahre Hausse des hiesigen Schlagerwesens gesorgt hat. Dem gelernten Musiksonderschullehrer traute man am ehesten eine Hitparaden-Renaissance zu.

Um schreckliche schlagerlose Zeiten erst gar nicht aufkommen zu lassen, wiederholt das staatsnahe 3sat ab sofort regelmäßig. Als eine Art großdeutschsprachiger Leitkulturkanal (bestückt aus dem TV-Schaffen der vereinigungsdeutschen, der österreichischen und der helvetischen Republik) verabfolgt man dem Publikum vierzehntäglich (mittwochs um 12.45 Uhr) das Hitparadenarchiv, beginnend mit einer Folge des Jahres 1985, in der unter anderem Klaus Lage, Costa Cordalis und die Bläck Fööss an den Start gegangen waren.

Wer nennt die Nummern, kennt die Namen? Gebräunt, frisch gefönt und hautgestrafft präsentierten sie sich, mehr oder weniger triumphal: Nicole bei Auftritten mit 16 Siegen, über zwei volle Jahre als Dauerbrennerin, wonach die Regeln geändert wurden – allenfalls dreimalige Wiederholungsteilnahme. Roland Kaiser durfte die versammelte ZDF-Schwiegermutterschaft 67 Mal mit seiner blendenden Erscheinung entzücken. Chris Roberts brachte es auf 13 Siege bei 65 Auftritten, Howie Carpendale schritt 58 Mal die Treppe hinab, dicht gefolgt von Juliane Werding und Lena Valaitis aus dem Land der Mitternachtssonne. Erfolgreichste Guppe waren Brunner & Brunner mit zehn Nummer-eins-Hits, gefolgt vom vormals verehelichten Sanges-Duo Cindy & Bert. Ein weites Feld für die Software der Schlagerfreunde allerorten. Erst wenn sich eine Figur des gelebten Lebens verabschiedet hat, beginnt die Eule der Minerva ihren Flug und hält Rückschau auf das, was war.


 
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