© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
Das Heulen der Nachgeborenen
Die "FAZ" wirft Erich Kästner eine propagandistische Unterstützung des NS-Regimes vor
Carl Gustaf Ströhm

Ist die Bundesrepublik Deutschland auf dem Wege, bestenfalls eine Art politisch-literarisches Absurdistan – und schlimmstenfalls eine "DDR-light" zu werden? Die Frage stellt sich, wenn man erfährt, daß die Sittenrichter des Antifaschismus neuerdings auch vor einer Person nicht haltmachen, von der man am wenigsten erwartet hätte, sie auf der Anklagebank der "political correctness" wiederzufinden.

Die Rede ist von Erich Kästner, dem 1974 verstorbenen Verfasser (unter anderem) des legendären Kinder- und Jugendbuches "Emil und die Detektive", des "Doppelten Lottchens" und vieler teils sehr witziger, mitunter nicht nur geistreicher, sondern auch lebenskluger Verse. Erstaunlich ist nicht nur die Person des "Angeklagten", sondern mehr noch des Anklägers: Es ist die renommierte FAZ, die Kästner in ihrem Feuilleton vom 3. Januar moralisch vom Sockel stößt. In einer umfangreichen Rezension eines Buches von Stefan Neuhaus, das unter dem Titel "Das verschwiegene Werk" im Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg, erschien, wird – weniger vom Buchautor, aber dafür ganz explizit vom FAZ-Rezensenten – Kästner der Vorwurf gemacht, während des Dritten Reiches "mit den Wölfen geheult" zu haben.

Gemeint sind natürlich die Wölfe des NS-Regimes. Aber halt – wie ist das möglich? Der FAZ-Rezensent beginnt seine Rezension mit der Feststellung, Erich Kästner sei von den Nationalsozialisten verboten worden. Seine Bücher seien 1933 verbrannt worden. In die Reichsschrifttumskammer sei er nicht aufgenommen worden – was bedeutete, daß er als Schriftsteller, zumindest offiziell, nicht publizieren durfte, zumindest nicht unter seinem Namen.

Man sollte meinen, ein Autor, dessen Werke auf dem Scheiterhaufen landet und der unter seinem eigenen Namen nicht mehr auftreten darf, sei eine bedauernswerte Existenz, ein politisch Verfolgter per excellence. Der unbarmherzige FAZ-Rezensent (der wahrscheinlich altersbedingt niemals die Erfahrung machen mußte, in einem totalitären Regime zu leben und zu überleben) ist da ganz anderer Meinung. Kästner – dieser "Paradiesvogel", der mit den NS-Wölfen "heulte" (ein heulender Vogel – welch seltsame Sprachschöpfung!), habe sich unter dem NS-Regime "die Stimme ruiniert", er sei nach zwölf Jahren "moralisch und künstlerisch ramponiert" worden, und zwar von seinem "eigenen inneren Gerichtshof" (auch auf der Sprachautobahn der FAZ fährt man gelegentlich über solche sprach-lichen Schlaglöcher).

Welch ungeheurer Verfehlungen hat sich Erich Kästner schuldig gemacht, daß die moralisierende FAZ derart scharf gegen ihn losgeht? Nun, wir erfahren, was ohnehin die meisten wissen: Daß Kästner während des Dritten Reiches unter Pseudonym Lustspiele verfaßte, welche der FAZ-Rezensent heute als "seicht" abqualifiziert – und daß diese Komödien noch 1942 "reichsweit" von 42 Bühnen aufgeführt wurden, daß die Stücke oft ein "Riesenerfolg" waren, und das nicht nur in der Provinz, sondern in den deutschen Großstädten.

Hier ahnt man bereits, worauf der FAZ-Rezensent hinauswill: Kästner hat sich, indem er diese "seichten" Stücke verfaßte, in den Dienst jenes NS-Regimes gestellt und es propagandistisch unterstützt, das ihn zuvor verboten und verbrannt hatte. Und schon erfahren wir ein weiteres belastendes Detail: "Emil und die Detektive", dieses unvergeßliche Kinder-Abenteuerbuch – das ich als Elfjähriger mitten im Krieg geradezu verschlungen habe – sei ja von den Nazis gar nicht verboten worden. In der Tat haben meine Eltern das damals ganz offiziell in einer Buchhandlung erstanden! Pfui, Kästner, kann man da nur sagen, sofern man das gleiche moralische Kaliber verwenden wollte wie der FAZ-Rezensent.

Schlimmer noch: Unter dem Pseudonym "Berthold Bürger" habe Kästner das Drehbuch für den Ufa-Renommierfilm ’Münchhausen‘" geschrieben und dafür "einen sechsstelligen Reichsmarkbetrag" kassiert. Welche Schande – Erich Kästner nahm sogar Honorare von den "Nazis" (sprich: der Ufa)! Nota bene: Der "Münchhausen"-Film ist hervorragend gemacht und heute noch sehenswert. Von NS-Ideologie keine Spur – ganz im Gegenteil. Und Bürgers alias Kästners Drehbuch war ein Glanzstück.

Aber das, scheint es, macht die Sache für den FAZ-Rezensenten nur noch schlimmer. Worauf er hinauswill, verrät er gleich zu Anfang, wenn er schreibt, Kästner habe im Dritten Reich nicht "hungern" müssen. Hier aber wird eine beckmesserische Strenge und zugleich ein geschichts- und wirklichkeitsfremder Rigorismus erkennbar, der einen erschauern lassen könnte. Um in den Augen des nachgeborenen FAZ-Rezensenten moralisch einwandfrei zu bleiben, hätte sich Kästner – der noch vor 1933 in einem vielzitierten Gedicht den Nationalsozialismus als "Volksbewegung der Dummheit" und Hitler als "Schaumschläger" qualifiziert hatte – gewissermaßen "freiwillig" ins KZ melden müssen, in das er um Haaresbreite wohl auch geraten wäre.

Jeder, der unter einem totalitären Regime leben muß, ist in der einen oder anderen Weise gezwungen, seine Kompromisse mit diesem Regime zu machen. Die Frage ist nur, ob es Kompromisse sind, die die eigene moralische Substanz antasten oder nicht. Sicher haben im Dritten Reich selbst bedeutsame Gestalten wie etwa Plack oder Heisenberg überlebt und (für damalige Verhältnisse) recht gut gelebt. Kann man sie deshalb schuldig sprechen oder behaupten, sie hätten "mit den Wölfen geheult"? Auch der berühmte Schindler konnte "seine" Juden nur deshalb vor der Vernichtung retten, weil er – so grotesk das klingen mag – selber ein Teil des Regimes war: Nur so hatte er Zugang und Einfluß bei jenen Stellen (also SS und SD), in deren Hand das Leben der ihm Anvertrauten war. Hätte er den Regime-Leuten ins Gesicht gesagt, was er über sie wahrscheinlich dachte, wäre er selber über die Klinge gesprungen – und kein einziger Mensch gerettet worden.

Können sich forsche Gegenwarts-Rezensenten nicht in die Lage eines Autors versetzen, der – so wie Kästner – an der Schwelle zu Ruhm und Erfolg steht, als plötzlich das Unheil – das Dritte Reich – über ihn hereinbricht? Was soll ein solcher Mensch tun, der vielleicht deshalb nicht emigrieren will, weil er im Ausland kein Publikum für seine deutschsprachigen Werke hätte – und der nicht berühmt genug ist, um sich, wie etwa Thomas Mann, das Exil materiell leisten zu können? Ist es nicht vielmehr eine Tragik, daß ein begabter Buch- und Bühnenautor auf dem Gipfel seiner Schaffenskraft gezwungen ist, in die Anonymität abzutauchen, statt sich seines Autorenruhms zu erfreuen? Und natürlich mußte jemand da sein, der ihn schützte und ihm gewisse Türen öffnete: Auch unter den Nationalsozialisten gab es solche: Etwa jene, die selbst einmal "Emil und die Detektive" gelesen (oder ihren Kindern vorgelesen) hatten und die der Meinung waren, man solle den Kästner schreiben (oder den Heisenberg in seinem Institut forschen) lassen. Von einem Menschen, der durch die zweifellos vorhandenen Gefahren einer totalitären Ära gehen muß, zu verlangen, er solle bewußt das Martyrium (etwa den von der FAZ geforderten Hunger) erleiden – oder noch Schlimmeres –, ist unmenschlich und zugleich unhistorisch. Es zeugt von einem Unverständnis für historische Zusammenhänge, Zwänge und Tragödien.

Erich Kästner war nicht eine schuldhafte, sondern eine tragische Gestalt. Schlimm, wenn so etwas nicht verstanden wird. Und zwar schlimm für das geistige – wenn man so will: feuilletonistische – Deutschland. Wie sagte es Kästner selber: "Was auch immer geschieht – nie dürft ihr so tief sinken / von dem Kakao, durch den man euch zieht / auch noch zu trinken."


 
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