© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Gediegene Ambivalenz
Zum 75. Geburtstag von Wolf Jobst Siedler
Michael Meyer

Die drei Freunde Joachim C. Fest, Johannes Gross und Wolf Jobst Siedler saßen nach einer gemeinsamen Veranstaltung beieinander. Bei einem guten Tropfen unterhielt man sich anregend und teilte vielerlei Ansichten. So kam es, daß sich die drei konservativen hommes des lettres nach dem Konsum einiger Gläser das Du anboten. Als sie sich am nächsten Morgen wiedersahen, siezten sie sich wieder kommentarlos.

Diese Anekdote gibt einen Einblick in die Mentalität Siedlers, der am 17. Januar seinen 75. Geburtstag feierte. Er pflegt in seinem Habitus den Bürger, der vielen Vorgängen in der Gesellschaft zwar mit Skepsis bis ironischer Ablehnung gegenübersteht. Aber in der Art und dem Ausmaß seiner Kritik agiert der Berliner äußerst zurückhaltend.

Siedlers Vater, der denselben Vornamen trug, war promovierter Jurist und vor dem Ersten Weltkrieg Konsul in Konstantinopel und dann in Alexandria. Der beste Freund des Schülers Wolf Jobst Siedler war Ernst Jünger jun., der älteste Sohn des Jahrhundertschriftstellers. Beide besuchten die Oberstufe eines Internats auf Spiekeroog, wo sie auch 1944 verhaftet wurden. Sie waren von einem Mitschüler verraten worden, nachdem sie sich abfällig über Hitler geäußert hatten und den Krieg für verloren hielten. Nachdem sich u. a. Ernst Jünger sen. für die Verhafteten eingesetzt hatte, "durfte" sein Sohn "Ernstel" zur "Frontbewährung" nach Carrara, wo er angeblich durch einen Kopfschuß fiel. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte Siedler erst an der Ost-Berliner Humboldt-, dann an der Freien Universität Philosophie, Soziologie und Germanistik – ohne einen Abschluß zu machen. Denn vorher wurde er "auf eine sehr sonderbare Weise", wie er selbst schildert, Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegel: Dessen Chefredakteur Karl Silex hatte einige Aufsätze des Studenten in kleinen Zeitschriften gelesen. Sie gefielen ihm so gut, daß er darauf bestand, den Autoren als Kulturchef berufen zu können.

1963 holte Axel Springer den verwurzelten Berliner als Leiter des Propyläen Verlags. Seinen dortigen Karriere-Gipfel erlebte Siedler 1976 mit der Übertragung des Direktoriums der gesamten Ullstein-Verlagsgruppe. Hier verantwortete er fünf der sechs deutschen Übersetzungen von Pierre Drieu la Rochelle, dem französischen Kollaborateur und Fascho-Dandy. Außerdem sorgte er für eine Vielzahl prächtig gestalteter bibliophiler Bände. 1979 verließ er den Verlag an der Berliner Mauer. Im Jahr darauf gründete er zusammen mit einem befreundeten Berliner Bauunternehmer den Verlag Severin und Siedler. Dieser ist quasi die Generalprobe für den späteren Buchverlag ausschließlich unter seinem eigenen Namen. Unter diesem Dach verlegte Siedler Erinnerungs- und andere Bücher des politischen Führungs-Mainstreams von Richard von Weizsäcker über Schmidt, Genscher bis zu Kissinger. Diese Bücher erleben hohe Auflagen; sie werden häufig verschenkt, jedoch kaum gelesen.

So verhält es sich mit Siedlers Leidenschaft, seinem eigenen Verlag, wie mit dem größten Teil seiner publizistischen Tätigkeit: Es sind interessante Zwischentöne enthalten, doch immer dann, wenn es ansatzweise gefährlich werden könnte, wird Siedler betont vorsichtig. So bleibt sein einziges herausragendes Buch "Die gemordete Stadt – Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum". Der Band ist eine Mischung von einigen hervorragenden Essays, in denen Siedler die glatte und lieblose Nachkriegs-Architektur vernichtend kritisiert, und kongenialen Fotos von Elisabeth Niggemeyer. Die Geschichte dieses Werkes ist Zeugnis seiner Wirkung. Die Erstausgabe von 1964 ist mittlerweile selten und – wenn überhaupt – nur zum Sammlerpreis zu bekommen. Eine Neuausgabe von 1978 wurde dagegen im modernen Antiquariat verramscht. Das hatte sicher auch damit zu tun, daß der Einfluß dieses Bildbandes über die Jahre so durchschlagend gewesen ist, daß bereits Ende der achtziger Jahre es als Allgemeingut galt, die Lebensqualität in einem Hochhausghetto nicht mehr höher als in einem gewachsenen Kiez aus dem vorigen Jahrhundert einzuschätzen.

Wie als Verleger, so war Siedler auch als Publizist meist bemüht, den Pfad des Establishments nicht zu verlassen. Am ungefiltertsten erscheinen da noch die Essays in den "Behauptungen" von 1965, wo er gegen die "deutschen Linksintellektuellen" polemisiert ("Staatsbeihilfe für Aufsässige") und Spengler in Schutz nimmt. Einem Beitrag über Friedrich Sieburg gab Siedler den Titel "Auf linke Weise rechts sein". Interessant ist auch das Gesprächsbuch "Deutschland, was nun?", in dem eine Unterhaltung zwischen Siedler, Arnulf Baring und einem jungen Historiker dokumentiert ist. Auch hier werden die politischen Probleme allerdings hauptsächlich von Baring angesprochen. Der Nachfahre von Schadow schrieb Dutzende von Preußen-Artikel, bei deren Lektüre man sich fragt, warum es sich denn überhaupt um eine "kostbare geistige Provinz" handelte.

Besonders deutlich wird die Ambivalenz Siedlers, der 1987 den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik und später den Großen Schinkel-Preis erhielt, an seiner Haltung zu Ernst Jünger. Siedler hat Jünger immer gegen ungerechtfertigte Angriffe in Schutz genommen. Was aber den literarischen Wert von Jüngers Werk betrifft, sagte der Berliner häufig, davon werde der Nachwelt nicht viel in Erinnerung bleiben. Anders hörte sich das in der Laudatio an, die Siedler 1982 zur Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt am Main an den Pour le mérite-Träger hielt. Dort bezeichnete er Jünger als "einen Zeitgenossen der Klassiker, die vorläufig letzte Erscheinungsform von Welt-literatur in deutscher Sprache".


 
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