© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/01 26. Januar 2001

 
Kolumne
Altes Neuwissen
Klaus Motschmann

Zu den wesentlichen Merkmalen des Kampagnen-Journalismus gehört, daß der Anlaß für die jeweilige Kampagne in der Regel bereits mehrere Jahre zurückliegt und insofern nicht der eigentliche Grund sein kann. Das war so in der Kampagne gegen die sächsische Kleinstadt Sebnitz wegen eines angeblichen Mordes an einem kleinen Jungen durch Neonazis im Sommer 1997; das ist so in den gegenwärtigen Kampagnen um verseuchtes Rindfleisch durch BSE, verseuchtes Schweinefleisch durch Antibiotika, verseuchte Baby-Nahrungsmittel durch Schimmelpilze; das ist so bei den Aufgeregtheiten um die linksextremistischen Aktivitäten der Minister Fischer und Trittin; das ist so bei den "Enthüllungen" über die Verwendung uranhaltiger Munition der Nato im Kosovo-Krieg und bei Manövern.

Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß die jetzt beklagten Tatsachen "seit Jahren" bekannt seien. Nun ist der Prozeß der gläubigen Hinnahme derartiger Kassandrarufe zwar beachtlich weit vorangeschritten, und die Bereitschaft zur Kniebeuge vor den (v)ideologischen Geßlerhüten in den verantwortlichen politischen und gesellschaftlichen Kreisen wächst trotz aller gegenteiligen Erfahrungen. Da und dort wird aber doch noch die Frage gestellt, warum das so ist – und sei’s an dem vielbelästerten und geschmähten "Stammtisch".

Wenn also beim Verzehr von Rindfleisch mit "Risiken und Nebenwirkungen" zu rechnen ist – und beim Verzehr von Schweinefleisch nach den jüngsten Erkenntnissen mit noch sehr viel gefährlicheren! –, warum werden dann erst jetzt alle publizistischen Register gezogen? Mit dem Vorwurf der "groben Fahrlässigkeit", "unverantwortlicher Verzögerungen", "hanebüchener Schlamperei" usw. an die verantwortlichen Institutionen und Personen ist man jetzt sehr rasch zur Hand; und sie zeigen ja auch durch Aktivismus deutlich Wirkungen. Wann aber hat man schon einmal von entsprechenden Konsequenzen in den Medien gehört? Wenn es "unverantwortlich" ist, auf seit Jahren bekannte Mißstände nicht oder nur unzureichend zu reagieren, dann sollte dieser Vorwurf eben auch die Verantwortlichen für die veröffentlichte bzw. nicht veröffentlichte Meinung treffen. Es geht den Menschen eben nicht nur um das Vertrauen in ihre Wurst- und Fleischwaren, sondern auch um die ihnen aufgetischten Nachrichten. Das Vertrauen in wichtige Lebensmittel soll zurückgewonnen werden an den Fleischtheken und Würstchenbuden. Hoffentlich auch an unseren Zeitungskiosken und Bildschirmen. Der Mensch lebt nicht vom Brot (und der Wurst darauf) allein.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Poltikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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