© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/01 26. Januar 2001


Bessarabien am Abgrund
Moldawien: Die ehemalige Sowjetrepublik steckt in einer fast aussichtslosen politischen und wirtschaftlichen Krise
Ivan Denes

Auch in Europa gibt es "Bananenrepubliken": Eine davon – Moldawien – ist etwa so groß wie Baden-Württemberg (33.800 Quadratkilometer) und hat 4,3 Millionen Einwohner, die pro Kopf ein Bruttosozialprodukt von nicht mal tausend Mark im Jahr erwirtschaften. Die jüngsten Vorgänge im Parlament der früheren Sowjet- und heutigen GUS-Republik lassen keine Besserung in diesem europäischen Armenhaus erwarten.

Die unmittelbare Vorgeschichte: Am 15. Januar lief das Mandat von Staatspräsident Petru Lucinschi aus. Am 5. Juli 2000 hat das Parlament einer Verfassungsänderung zugestimmt, deren Zweck es war, das Land aus einer Präsidialrepublik in eine parlamentarische Republik umzuwandeln, d.h. die Wahl des Staatspräsidenten sollte zukünftig nicht mehr durch Direktwahl erfolgen, sondern im Parlament stattfinden. Der neuen gesetzlichen Vorschrift zufolge muß innerhalb von 15 Tagen nach einer ergebnislosen Abstimmung ein neuer Anlauf genommen werden. Die ersten zwei ergebnislosen Runden fanden am 4. und 6. Dezember statt. Am 21. Dezember erschienen lediglich 47 linksgerichtete Abgeordnete im Plenum, an- stelle der Mindestzahl von 61 (von den insgesamt 101) Abgeordneten, die für die Wahl des Staatspräsidenten notwendig gewesen wären. Weitere Wahlgänge waren für den 26. oder möglicherweise 29. Dezember vorgesehen. Bei der vorangegangenen Abstimmungsrunde kam der kommunistische Kandidat Wladimir Woronin (der gegen den Präsidenten des Verfassungsgerichts, Pavel Barbalat, angetreten war) auf immerhin59 Stimmen.

Die Abgeordneten der Parteien, welche die Wahl boykottiert haben, sollen das im Juli verabschiedete Wahlgesetz jedoch nicht genau gelesen haben. Darin wurde bestimmt, daß bei wiederholtem Scheitern der Präsidentenwahl der amtierende Präsident das Recht hat, das Parlament aufzulösen und vorzeitige Wahlen auszuschreiben. Plötzlich drohte Präsident Petru Lucinschi – als "Zentrist" beschrieben, obwohl er Mitglied des letzten Politbüros der KPdSU gewesen war, ein klassischer "Wendehals" – mit der Auflösung des Parlaments, wodurch sein Mandat sich automatisch verlängert, bis das neue Parlament einen Präsidenten wählt.

Lucinschi selbst tritt nicht an, erklärte jedoch, die ausgebrochene Staatskrise beweise, daß die Abschaffung der Präsidialrepublik zur "politischen Pleite" geführt habe. Darauf reagierten die Parlamentarier mit dem Hinweis, wegen des Boykotts hätten überhaupt keine weitere Wahlgänge stattgefunden, daher könne der Präsident das Parlament nicht auflösen. Lucinschi wandte sich an das Verfassungsgericht, und dieses entschied, der Präsident habe in der entstandenen Lage sehr wohl das Recht, das Parlament aufzulösen. Man hat in Chisinau daraufhin erwartet, Lucinschi werde, wie er selbst erklärte, das Parlament am 8. Januar, kurz nach den orthodoxen Weihnachten – die in Chisinau nach orthodoxem Ritus Anfang Januar begangen werden – auflösen und die Neuwahlen für den 25. Februar festlegen. Überraschend hat dann Lucinschi am 31. Dezember vorzeitig das Auflösungsdekret unterschrieben.

Den 40 Prozent der Kommunisten steht ein aufgesplittertes Spektrum kleiner Parteien gegenüber, die sich in der Koalition von Ministerpräsident Ioan Sturza zusammengerauft haben. Seit der Unabhängigkeitserklärung von 1991 erweist sich das frühere Bessarabien – das wie ein Sandwich zwischen der Ukraine und Rumänien liegt – unfähig, eine stabile Regierungsform zu finden. Im Kernland der Republik, also zwischen den Flüssen Dnjester und dem Pruth – dem Grenzfluß zu Rumänien – ist die Bevölkerung überwältigend rumänisch. Das Gebiet gehörte bis 1815 zur rumänischen Wojwodschaft Moldau, dann zum Zarenreich und von 1918 bis 1940 zum Königreich Rumänien, wurde dann von Stalin annektiert und zusammengelegt mit dem östlichem Gebiet zwischen Dnjestr und Bug, als Transnistrien bekannt.

In Transnistrien stellen die Ukrainer die größte Bevölkerungsgruppe, gefolgt von Russen und Rumänen. 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde erwartet, daß sich das künstliche stalinistische Gebilde mit Rumänien wiedervereinigt. Überraschend votierte jedoch die Mehrheit der Bevölkerung für die Unabhängigkeit der Republik und beschloß lediglich die Rückkehr zum lateinischen Alphabet, das im Zuge der stalinistischen Russifizierungspolitik durch das kyrillische ersetzt worden war. Eine Wiedervereinigung mit Rumänien scheint die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin abzulehnen– was sich aber nach einem EU-Beitritt Rumäniens wohl schnell ändern könnte. Sie wird jetzt lediglich von der Christdemokratischen Volkspartei befürwortet.

Die Unabhängigkeitserklärung kam die Republik teuer zu stehen. Eine kleine Gruppe ehemaliger KGB-Offiziere aus dem Baltikum, die anläßlich der Belagerung der Fernsehanstalt im litauischen Wilna "notorisch" geworden war, flüchtete nach Tiraspol – die wichtigste Stadt zwischen Dnjestr und Bug – unter der Anführung eines gewissen Igor Smirnov und erklärte die Sezession der Provinz Transnistrien, was unmittelbar zu einem Bürgerkrieg führte. Die 14. russische Armee, damals unter General Alexander Lebed, dem späteren russischen Präsidentschaftskandidaten, bewaffnete und unterstützte die Sezessionisten, die sich bis zum heutigen Tag an der Macht halten. Die russischen Truppen agieren mit einem OSZE-Mandat als "Friedenssicherungstruppe".

Trotz vertraglicher Verpflichtungen, die Boris Jelzin gegenüber dem ersten Präsidenten Moldawiens, Mircea Snegur, eingegangen war, und trotz förmlicher Zusagen gegenüber der OSZE bleibt ein allerdings reduziertes Kontingent russischer Truppen in Moldawien stationiert. Der Generalstab in Moskau betrachtet diese Präsenz – sozusagen eine strategische Exklave im Rücken der Ukraine, sehr geeignet, um politischen Druck auszuüben – als unabdingbar. Erschwert wird der Abzug der russischen Truppen durch das Vorhandensein riesiger Waffendepots aus den Jahren des Zweiten Weltkrieges, darunter mehrmals zehntausend Tonnen längst durchgerostete Artilleriemunition, deren Abtransport problematisch erscheint (und nur über ukrainisches Gebiet erfolgen könnte).

Die Republik Moldawien ist wirtschaftlich kaum überlebensfähig und ohne Transnistrien schon gar nicht, denn die Industrie, die unter den Sowjets gebaut wurde, liegt beinahe ausschließlich östlich des Dnjestr. Das größte Unternehmen ist die Eisen- und Stahlhüttte von Ribnitza – in Transnistrien. Moldawien ist vornemlich ein Agrarland, mit Schwerpunkt auf Obst, Tabak und Wein.

Um sich aus der chronischen Armut zu befreien, sucht die Regierung in Chisinau – in ihrer eher aussichtslosen Lage – die merkwürdigsten Wege. So ist sie auf die Schnapsidee gekommen, auf dem von der Ukraine an Moldawien abgetretenen, etwa anderthalb Kilometer langen Ufer des Nordarmes des Donau-Delta einen Hafen mit Ölterminal und Raffinerie zu bauen, in der Erwartung, daß irgendwann das kaspische Öl anfangen wird zu fließen und ein Teil der geförderten Menge nicht im ukrainischen Ölhafen Odessa oder im rumänischen Hafen Konstanza/Navodari landen wird, sondern eben in Moldawien. Dies natürlich im Falle, daß die Ölpipeline Baku–Ceyhan nicht gebaut werde.

Es gibt zur Zeit ebensowenig Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung wie auf politische Stabilität. Es prallen hier rumänische, russische, ukrainische und natürlich westliche Interessen aufeinander. Aber selbst wenn der überdimensionierte Ehrgeiz des nach der Sezession verbliebenen Ministaates eines Tages in sich zusammenbrechen und der Gedanke der nationalen Einheit mit Rumänien wieder die Oberhand gewinnen sollte, bliebe es eine offene Frage, ob die selbst rückständige Republik Rumänien die Heimkehr einer verwahrlosten, sich im Griff einer unlösbaren Wirtschaftskrise windenden Provinz überhaupt verkraften könnte.


 
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