© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/01 26. Januar 2001

 
Heimweh nach der Unschuld
Zum 100. Geburtstag der Dichterin Marie Luise Kaschnitz
Werner Olles

Das Werk von Marie Luise Kaschnitz ist in einem sehr persönlichen Verständnis der abendländisch-christlichen Tradition begründet. Vor diesem Hintergrund mutet es befremdlich an, daß diese "poetischste Chronistin ihrer Lebens-Zeit" (Gudrun Bethge-Huber) ihre wohlbehütete und sozial privilegierte Jugend immer als besonders angstvoll und quälend empfand. Die sprachlich anspruchsvolle und formvollendete Gestaltungsweise und später die künstlerische Altersweisheit ihrer Dichtung beinhalteten stets auch eine Absage an ihre eigene Herkunft.

Am 31. Januar 1901 in Karlsruhe geboren, stammte Marie Luise von Holzing-Berstett aus einem badisch-elsässischen Adelsgeschlecht. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Berlin, wo ihr Vater als General in preußischen Diensten stand. Diese Wertvorstellungen blieben prägend für ihr ganzes Leben, wenngleich sie auch literarisch eine scharfe Trennungslinie zu ihrer Vergangenheit zog. Nach einer Buchhändlerlehre ging sie 1924 nach Rom, um dort in einem Antiquariat zu arbeiten. Hier lernte sie den Freiherrn Guido von Kaschnitz-Weinberg kennen, der als Assistent am Deutschen Archäologischen Institut tätig war. Nach ihrer Heirat und der Geburt ihrer einzigen Tochter im Jahre 1928 kehrten sie 1932 wieder nach Deutschland zurück. Die Universitätslaufbahn ihres Mannes führte das Ehepaar nach Königsberg, später nach Marburg, Frankfurt am Main und wieder nach Rom. Ab 1956 lebten sie ständig in Frankfurt, wo Marie Luise Kaschnitz 1960 an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität eine Gastdozentur in Poetik innehatte. Ihre Forschungs- und Studienreisen führten sie an der Seite ihres Mannes durch ganz Europa.

Ihre frühen Dichtungen, Erzählungen und Romane sind voller Lebensbejahung und verstehender Güte. Neoromantisch in der Sprache, klassizistisch in der Form und unpolitisch in der Mythisierung setzt sie sich zunächst kaum mit der eigenen Gegenwart auseinander. Sie selbst beschreibt ihre Gedichte als "Ausdruck des Heimwehs nach einer alten Unschuld oder der Sehnsucht nach einem aus dem Geist und der Liebe neu geordneten Dasein". Erst nach der Essaysammlung "Griechische Mythen" (1946) beginnt sie sich langsam mit der Kriegs- und Nachkriegszeit ("Menschen und Dinge", 1946) auseinanderzusetzen. Ein Jahr später prägt sie mit dem Band "Gedichte zur Zeit" frauliche Erlebnisse im Sinne einer Trümmerpoesie neu. Manche Literaturkritiker haben ihr dies später als Rückzug auf die "weibliche Position" und den "Feierton des Ewigmenschlichen" vorgeworfen, und in der Tat war sie alles andere als eine Vorkämpferin für die Emanzipation der Frau. Zeit ihres Lebens war sie stark auf ihren Mann bezogen, dessen früher Tod im Jahre 1958 sie in den Gedichten "Dein Schweigen – meine Stimme" (1962) und den Aufzeichnungen "Wohin denn ich" (1963) künstlerisch verarbeitete. Leid, Resignation und das Erlebnis des Weiterlebens als allein Zurückgelassene prägen selbstquälerisch und selbstzweifelnd die autobiographische Prosa dieser Jahre.

Obwohl sie den Tod ihres geliebten Mannes "als einschneidenden Bruch ihrer Biographie erlebte" (Uwe Schweikert), bedeutete er gleichzeitig auch einen Identitätsgewinn, weil er die Schleusen ihrer Erinnerung öffnete. Ihre Prosatexte "Beschreibung eines Dorfes" (1966), "Tage, Tage, Jahre" (1968) und "Steht noch dahin" (1970) suchen aus den Nöten der Zeit neue Hoffnung und Überwindung der Angst. Dieses ewig Autobiographische, literarisch gebrochen durch die intensive Auseinandersetzung mit den unversöhnlichen Widersprüchen der Kunsttheorie ihres Freundes Theodor W.Adorno, beherrscht auch die Essays ("Zwischen Immer und Nie", 1971), das Hörspiel ("Gespräche im All", 1971), die Romane "Eisbären", 1972,und "Der alte Garten", 1975), die Gedichte ("Kein Zauberspruch", 1972, und "Gesang vom Menschenleben", 1974) und das kurze Prosastück ("Orte", 1973).

Gestorben ist Marie Luise Kaschnitz am 10. Oktober 1974 im Alter von dreiundsiebzig Jahren in Rom. Ihr Grab liegt im heimatlichen Bollschweil. Posthum erschienen 1980 in einer bibliophilen Ausgabe die Ballade "Die drei Wanderer" und 1983 die Erzählungen "Eines Mittags, Mitte Juni". Auch in ihnen spürt man wieder ihren tiefen Glauben an die verwandelnde Kraft der Kunst, mit der sie der unausweichlichen Katastrophe des menschlichen Daseins begegnen wollte, an die "Gegenbilder, die es gälte aufzurichten, um die Bilder des Friedens und der Harmonie erst recht zur Geltung zu bringen".


 
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