© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/01 02. Februar 2001

 
Pankraz,
J. Habermas und die neue Übersichtlichkeit

Wer gut hinhört, wenn ernsthafte Leute sich unterhalten, vernimmt einen neuen Ton. "Alles wird schwieriger", heißt es übereinstimmend in diesen Kreisen, "die Zeit der simplen Problemlösungen ist vorbei. Hinter jedem Hügel, den wir erklimmen, türmen sich Gebirge, von deren Vorhandensein wir bisher keine Ahnung hatten. Je weiter wir fortschreiten, umso länger dehnt sich der Weg."

"Neue Unübersichtlichkeit", hieß einst ein Titel von Jürgen Habermas. Damit waren die Schwierigkeiten gemeint, vor die sich gewisse Soziologen und Politologen gestellt sahen, als sie, durch die Weltgeschichte belehrt, um 1989 feststellen mußten, daß ihre marxistischen Erklärungsrezepte nichts taugten, daß sie, statt etwas zu erklären, nur Verwirrung stifteten. Konnte man über diese selbstgebastelte "Unübersichtlichkeit" damals noch lächeln, so ist einem das Lachen heute gründlich vergangen.

Denn auch die Naturwissenschaften haben inzwischen einen Offenbarungseid leisten müssen. Ihre von der Physik als jahrhundertelanger Leitwissenschaft beflügelte Hoffnung, die Welträtsel mit Hilfe einiger weniger eleganter Formeln auflösen und am Ende gar eine flotte "Weltformel" etablieren zu können, hat sich ebenfalls als Illusion erwiesen.

Die neue Leitwissenschaft, nämlich die Biologie, die Wissenschaft vom Leben, sperrt sich energisch gegen alle Gleichungen und Formeln. Das Forschungsgelände, das die Biologie eröffnet, gleicht nicht mehr einem geometrischen Barockgarten, sondern es ist ein wildwuchernder, von zahllosen Rinnsalen durchzogener Auwald. Hinter jeder Flußbiegung tun sich sogleich völlig neue, gänzlich unerwartete Perspektiven auf, und wer das Gelände abzirkeln wollte, würde es nur zerstören.

Die "Entschlüsselung des menschlichen Genoms" im vorigen Jahr (oder besser: die Kommentare, die damit verknüpft wurden) war ein solcher Zirkelversuch. Er ist spektakulär gescheitert. Schnell stellte sich heraus, daß das Schloß, in das man da den angeblichen Schlüssel steckte, viel, viel komplizierter und eckenreicher war, als einige geglaubt haben mochten, daß man allenfalls einen Schlüsselstiel in der Hand hielt, an dem jeglicher "Bart" fehlte.

Es besteht begründeter Verdacht, daß das, was zuerst der Soziologie und Politologie, dann der Naturwissenschaft passiert ist, auch allen übrigen Wissensbereichen bevorsteht, inklusive diversen Künsten und Trickkisten wie etwa der Politik. Alles ist komplizierter, aspektereicher und folgenträchtiger, als man noch vor kurzem gedacht hat.

Das Schema von den "Folgen", die eine Handlung hat, und von den "Nebenfolgen", die sie begleiten, stimmt nicht mehr. Zwischen (erwünschten) Folgen und (vernachlässigbaren) Nebenfolgen läßt sich nicht mehr sicher unterscheiden. Man ist wahrscheinlich gut beraten, wenn man, wie Hans Jonas empfohlen hat, immer die "schlimmstmögliche Nebenfolge" zur Handlungsrichtschnur macht. Auf jeden Fall sollte man sich auf Überraschungen einstellen und stets einen Notschlüssel parat haben.

Eine eher angenehme Nebenfolge der nun wirklich neuen Unübersichtlichkeit besteht darin, daß man künftig ziemlich gut zwischen Dummköpfen und hellen Köpfen wird unterscheiden können. Wer mundfrisch und schlagworthaltig Patentlösungen in Aussicht stellt, alles über einen einzigen Leisten schlagen will und immer nur Licht am Ende des Tunnels sieht, der ist als Dummkopf kenntlich, auch wenn er noch so viel Erfolg bei den Medien hat und zu Reichtum und höchsten öffentlichen Ehren kommt.

Helle Köpfe zeichnen sich dadurch aus, daß sie endgültigen und globalen Lösungen mißtrauen und die Tunnel sorgsam mit Brandschutzvorrichtungen und Sicherheitsnischen ausstatten, auch wenn der Tunnelweg nur kurz und die Wagen, die ihn benutzen, modern und feuerfest erscheinen. Insofern war das schreckliche Tunnelunglück von Kaprun letzten Herbst ein Menetekel – und ein Lehrstück für all jene, die den fortschrittsfröhlichen Dummköpfen nicht länger das Feld überlassen dürfen.

Vorsicht ist nicht nur die Mutter der Porzellankiste, sondern auch die Primärtugend der wahrhaft hellen Köpfe im Zeitalter der Biologie als Leitwissenschaft. Denn Biologie heißt, wie gesagt, Wissenschaft vom Leben, und Leben ist unter allen Bedingungen ein höchst fragiler und vergänglicher Zustand. Jedes Agieren in seinem Zeichen gleicht einem Operieren am offenen Herzen, geschehe es nun im Laboratorium oder in der Politik.

Solche umfassende Vorsicht hat nichts mit Zaghaftigkeit, mangelnder Kühnheit oder Fahren in eingeschliffener Routine zu tun, im Gegenteil: das in jeder nur denkbaren Hinsicht "vor"-sichtige Operieren am lebendigen Herzen erzieht zu Geistesgegenwart, Mut, Risikofreudigkeit. Der Zustand des Herzens kann sich ja jeden Augenblick ändern, das Unvorhersehbare wird zur Alltagserfahrung; zum erlernten Wissen muß die Intuition treten, das Gefühl für das im Augenblick Notwendige.

Biologie ist eben nicht Physik, lebendige Natur nicht bloße Teilchenmaterie, deren Bewegung man bis aufs letzte Komma berechnen kann. Unendlichkeit ist nicht mehr nur mathematische Funktion, mit der man operiert wie mit Plus und Minus, sondern ständiges konkretes Bewußtsein von der Unausschöpfbarkeit des Forschungsgegenstands und des Methodenarsenals.

Möglicherweise wird solches Bewußtsein in Zukunft als hauptsächlicher Eignungsausweis eines jeden verantwortungsvoll Forschenden oder Handelnden gewertet werden und in Diplome und Prüfungsordnungen Eingang finden. Die Prüfungen würden dadurch nicht leichter, aber nur so wird man mit Übersichtlichkeit auf die neue Unübersichtlichkeit reagieren können.


 
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