© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/01 02. Februar 2001

 
Aus dem Elfenbeinturm befreit
Wolfgang Harichs marxistischer Zugriff erschließt die politische Dimension im Werk des Philosophen Nicolai Hartmann
Ellen Conradt

Ins Gedächtnis vieler seiner Hörer hat sich eingeprägt, wie der seit 1931 in Berlin lehrende Philosoph Nicolai Hartmann (1882–1950) auch nach schweren Luftangriffen, tadellos in seinen dunklen Gehrock gehüllt, vor sein vorwiegend weibliches Auditorium trat und in seinem leicht singenden baltischen Idiom ungerührt über Aristoteles’ Metaphysik zu dozieren begann. Dieser die Zeitereignisse fast autistisch ignorierende Denker, der seinen Ausgang beim Marburger Neukantianismus nahm, der sich in den zwanziger Jahren neben Heidegger und Scheler als Kritiker idealistischer Metaphysik profilierte und der sich schließlich wegbereitend für die philosophische Anthropologie des jungen Arnold Gehlen einsetzte (1941), scheint also in exemplarischer Weise den apolitischen deutschen Gelehrten zu verkörpern.

Um so merkwürdiger, wenn sich ein hochpolitischer Kopf wie Wolfgang Harich für solchen vermeintlichen Bewohner des Elfenbeinturms interessiert hat. Der in Königsberg geborene Harich (1923–1995), Wehrmachtsdeserteur und Widerstandskämpfer, Mitbegründer und Chefredakteur der marxistisch-leninistischen Deutschen Zeitschrift für Philosophie, besaß alle Voraussetzungen, um zu einem führenden SED-Ideologen aufzusteigen. Bis er sich nach dem 17. Juni 1953 der Kritik am Dogmatismus und Stalinismus des Ulbricht-Regimes verschrieb. Gesamtdeutsche Reformprogramme und der Entwurf eines "besonderen Weges zum Sozialismus" führten 1956 zu Verhaftung und zehnjähriger Zuchthausstrafe. An seinen marxistischen Grundüberzeugungen änderten diese Erfahrungen nichts. Noch 1994 wurde Harich Mitglied der PDS, nachdem er sich zeitweise, während eines BRD-Aufenthalts 1979/81, den Grünen angenährt hatte.

Harichs Reflexionen zu Leben, Werk und Wirkung Nicolai Hartmanns, die Martin Morgenstern nun aus dem Nachlaß herausgegeben hat, erschließen, im dezidierten Gegensatz zu den bislang üblichen, auch von Morgenstern tradierten, irgendwie anämischen "immanenten" Deutungen zu dessen Erkenntniskritik und Ontologie, die politischen Dimensionen von Hartmanns Werk. Hartmann habe sich in der Weimarer Republik als Gegner extremer Ideologien der liberalen preußischen Kultusbürokratie empfohlen. Sein szientistisch-atheistisches Verständnis von Philosophie schuf aber auch Berührungsflächen zum dialektischen Materialismus, und nicht umsonst hat sich Harichs "Hausgott" Georg Lukács intensiv mit Hartmann beschäftigt. Man darf behaupten, daß nur dieser von Harich eröffnete Zugang Hartmanns Werk vor der philosophiehistorischen Mumifizierung bewahren kann. Schade nur, daß Morgenstern nicht die zahlreichen biographisch-zeithistorischen Fehlinformationen, die Harich ausstreut, behutsam korrigiert hat. Zu den peinlichsten gehört die Angabe, daß der Spranger-Schüler Hans R. G. Günther (Jahrgang 1898) ein Sohn des "Rassen"-Günther (geb. 1891) gewesen sei.

 

Wolfgang Harich: Nicolai Hartmann. Leben, Werk, Wirkung. Hg. von Martin Morgenstern, Königshausen&Neumann, Würzburg 2000, 138 S., 39,80 Mark


 
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