© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/01 02. Februar 2001

 
Süß-Saures an der Riviera
Frankreich: Mentons Zitronenfest, ein bißchen Frühling im Winter
(JF)

Einhundertunddreißig Tonnen Orangen und Zitronen werden jährlich an der Riviera zu großen Kunstwerken aufgetürmt. Oder auf eine Handvoll Festwagen montiert, die Mitte Februar gleich an drei Sonntagen über die Uferpromenade des Städtchens Menton rollen. Ein süß-saures Spektakel, das dem Karneval von Nizza mehr und mehr Konkurrenz macht. Spielt das Wetter mit, erwarten die Organisatoren mehr als 200.000 zahlende Besucher.

"Frankreichs Perle" nennt sich das Städtchen selbstbewußt – Grenzstation Richtung Italien, Kurort an der Riviera. Auf den schroffen Bergen der Alpenliegt noch Schnee, aber am Starnd wagen sich die ersten schon ins Wasser, wenn auch nur mit den Füßen. Für die meisten ist es zum Baden noch zu kalt. Da bleibt viel Zeit zum Bummeln, durch den großen Park vor dem Casino zum Beispiel, in dem wie jedes Jahr süß-saure Skulpturen stehen. Haushohe Kunstwerke aus Orangen und Zitronen, trotzige Zeichen des Überflusses. Unübersehbare Signaturen einer Gesellschaft, die das Haben über das Sein gestellt hat.

Jardin Biovès heißt die Anlage gegenüber dem Kongreßpalast, die grüne Achse zwischen Bahnhof und Strand, ein Park wie hundert andere an der Riviera, ein satter Rasen, gesäumt von Orangenbäumchen. Einmal im Jahr aber ist er Treffpunkt der Massen, schiebt sich eine Busladung nach der anderen durch ein Südfrucht-Märchenland. Vorbei an Tempeln aus Zitronen und Orangen, an süßsauren Burgen und vielen Figuren, die eine Mannschaft engagierter Stadtgärtner nach jährlich wechselndem Motto zusammensteckt. Eine Schau des Wohlstandes, die manchem als Orgie der Verschwendung erscheint.

Bei der Vertreibung aus dem Paradies, erzählt die Legende, habe Eva eine goldene Frucht mitgenommen. Zum Ärger Adams, der wegen des Diebstahls den Zorn Gottes fürchtete. Auf sein Drängen vergrub Eva die Frucht schließlich in der Bucht von Garavan, wo auf einem Hügel neben der alten Römerstraße im Mittelalter Menton entstand.

Heute pflegen ein paar hundert Farmer Evas Erbe, die großen Plantagen im sonnenverwöhnten Hinterland der Cote d’ Azur. Viele tausend Bäume stehen dort, an denen Jahr für Jahr fast 50 Tonnen Zitronen reifen. Zur Ernte sind Gäste willkommen. Hausgemachte Marmelade erwartet sie und frisch gepreßte Säfte. Dazu mit Orangenlikör getränkte Crepes oder leckere Zitronentörtchen, Spezialitäten, die in den Festwochen an jeder Ecke Mentons zu haben sind.

Vor allem im Jardin Biovès, wo die meisten Südfrucht-Händler ihre Stände haben. "Das Zitronenfest", heißt es im Fremdenverkehrsbüro, "ist neben dem Karneval in Nizza Südfrankreichs größte Touristen-Attraktion. Zu uns kommen mehr zahlende Gäste als zum Formel-Eins-Rennen nach Monaco", freut sich Danielle Le Goff, die für die Stadt die Werbetrommel rührt. Fast ein Drittel des Jahresumsatzes, wissen Mentons Hoteliers und Gastronomen, verdanken sie der Südfrucht-Schau, die im neuen Jahrtausend um eine Woche ausgeweitet und um eine Abendveranstaltung ergänzt wurde.

Höhepunkt der Festwochen sind die sonntäglichen Paraden entlang der Uferpromenade. Fast dreißig Mark kosten die numerierten Tribünenplätze, die gewöhnlich alle belegt sind. Voll besetzt sind auch Cafés und Restaurants rund ums Casino, das vielen Spielwütigen den Weg ins benachbarte Monte Carlo erspart. Zehn Festwagen stehen diesmal im Mittelpunkt. Dazwischen paradieren Orchester und Majorettencorps, Bergmannskapellen und Guggenmusik, musikalische Botschafter aus ganz Europa, die auf Straßen und Plätzen für Stimmung sorgen.

Genau betrachtet ist das Zitronenfest eine Fastnachtsfeier, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert reichen. Damals wurde an den Tagen vor Aschermittwoch überall an der Riviera gelacht und getanzt, paradierten Masken zu Fuß oder hoch zu Roß durch die Straßen. Konfettischachteln bildeteten den Rahmen kleiner Umzüge mit allegorischen Wagen. Berühmt war auch der abendliche Corso mit brennenden Kerzen, die man sich gegenseitig auszublasen suchte.

1875 aber übernahmen die Hoteliers der Stadt das närrische Zepter. Mit Bällen und Konzerten brachten sie Abwechslung in den Winterurlaub von Königen und Kaiserinnen, Opernsängern und Malern, reichen Architekten und Industriellen. König Albert von Belgien genoß das milde Klima von Menton ebenso wie Englands Königin Victoria. Künstler wie Auguste Rodin, Franz Liszt oder Charles Gounod zählten zu dem Stammgästen. Mentons Feste freilich standen immer im Schatten von Nizza, wo sich der Karneval zur weltweit beachteten Touristenattraktion entwickelt hatte.

Mehr als zwanzigtausend Stunden Arbeit steckt die Stadt, die das Fest seit 1936 organisiert, inzwischen in die Veranstaltung. Maßarbeit von Spezialisten die mit der Ernte der Früchte beginnt. 50 Tonnen liefern die Bauern aus Menton. Bis zu 80 Tonnen Orangen kommen aus der Gegend von Valencia, Mentons spanischer Partnerstadt. Stück für Stück stecken die Männer und Frauen vom Gartenamt die Früchte zusammen. Ein Team aus Profis, die wissen, worauf es ankommt. Bis 1965 nagelten die Arbeiter die Zitronenfrüchte auf Holzrahmen. Heute halten eine halbe Million Gummibänder Zitronen und Orangen auf den stählernen Untergestellen. Faule Früchte werden regelmäßig ausgetauscht, gut fünf Tonnen während des Festes.

"Das schwierigste", weiß Alain, der oberste Gärtner, "ist die Konstruktion der Drahtgestelle, die Seele aller Figuren sozusagen. Drei bis vier meiner Männer haben damit fast ein halbes Jahr Arbeit." Disney-Helden formen sie ebenso wie andere Comic-Gestalten, stählerne Gerüste, die bis zu 15 Tonnen Belastung aushalten müssen. Dreimal sind die Handvoll Festwagen unterwegs, die rollenden Aushängeschilder des Zitronenfestes. Dann reißen die städtischen Arbeiter die Festwagen und Kunstwerke wieder auseinander. Zurück bleiben viele Tonnen Südfrüchte: Orangen und Zitronen, die schnell unter den Hammer kommen. Zur Freude von Likörfabrikanten und Gelee-Herstellern, die das Ende des Festes kaum erwarten können.

 

Informationen: In diesem Jahr findet das Zitronenfest vom 8. bis 27. Februar statt. An den drei Sonntagen der Festwochen findet jeweils um 14 Uhr ein gut zweistündiger Festumzug statt, am 15. Februar gibt es einen "Corso aux lumières", einen nächtlichen Laternenumzug. Die große Südfrucht-Schau im Jardin Biovès ist bis zum 5. März täglich von 9 bis 18 Uhr zu sehen.


 
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