© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/01 09. Februar 2001

 
Die Mikrophysiker der totalitären Moderne
Ein von Dirk Käsler und Ludgera Vogt edierter Sammelband präsentiert die Klassiker der Soziologie
Wolfgang Saur

In den letzten zehn Jahren hat sich der fatale Trend zur Inflationierung des Sortiments auf dem deutschen Buchmarkt fortgesetzt. Die Verlage verstärken den Ausstoß schneller Titel, deren Halbwertzeit rasch sinkt und die das Lager ebenso schnell wieder räumen müssen. Dem entspricht gleichzeitig eine steile Verramschungsrate, welche unsere Preisbindung sukzessive aushöhlt. Die Wissensproduktion reflektiert also direkt den Charakter des heutigen Kultursystems auf seinem Abmarsch ins Ephemere.

Vor diesem Hintergrund verdient ein Traditionsverlag wie der Alfred Kröners in Stuttgart Respekt, der seit hundert Jahren unverdrossen und unnachgiebig auf Qualität und Bestand setzt. Bis heute erscheinen dort Klassiker der Theorie, mustergültig edierte Handbücher, geisteswissenschaftliche Darstellungen von hohem Rang und Lexika mit unendlichem Gebrauchswert. Viele der im Lauf der Zeit verlegten Bände haben mittlerweile selbst Klassikerstatus gewonnen und trotzen so einer Fortschrittsdynamik, deren Innovationsrate eine Veraltensrate produziert, welche die Müllberge des Vergangenen rapide vermehrt. Aus dem deutschen Geistesleben des 20. Jahrhunderts ist Alfred Kröner jedenfalls nicht wegzudenken; als paradigmatisch sei hier nur seine Herausgabe der Werke Friedrich Nietzsches genannt. Vollends eroberte sich der Verlag einen dauernden Platz im akademischen Sortiment durch die Gründung der sogenannten Taschenausgabe, die 1908 mit Ernst Haeckels "Welträtsel" eröffnet wurde.

Der 396. Band dieser Reihe ist nun soeben erschienen. Er gilt den Hauptwerken der Soziologie. Dem Kompositionsprinzip entsprechend waren parallele Bände schon in den Jahren zuvor herausgekommen: das "Lexikon der philosophischen Werke" (1988), die "Hauptwerke der Geschichtsschreibung" (1997) und die "Hauptwerke der politischen Theorie" (1997), allesamt schnell in den Kanon der Standardliteratur eingerückt.

Die Herausgeber stellen hier 107 Schlüsselwerke der Sozialwissenschaft (alphabetisch nach Autoren geordnet) vor, quasi eine "Musterschau soziologischer Meisterwerke, eine Sammlung von Inkunablen" und haben bei ihrer Auswahl "dabei als ausschlaggebendes Kriterium zugrunde gelegt, ob das jeweilige Buch bahnbrechende Innovationen geboten, schulbildend gewirkt, wichtige Themen und Gegenstandsbereiche eröffnet und/oder grundlegende Begriffe und Methoden geprägt hat". Dies Vorhaben kann als gelungen gelten, bietet doch der fertige Band einen gedrängten Gang durch die Entwicklung des Fachs und überdies eine Problemgeschichte der grundlegenden Fragen in der modernen Industriegesellschaft. Die diagnostische Sensibilität und analytische Kompetenz der Sozialwissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart wird auf diesem Niveau erneut deutlich und so das Handbuch eine Art Leitfaden, Kompaß, Nachschlagewerk für all diejenigen, welche mit dem Verständnis der letzten beiden Jahrhunderte im Hinblick auf Politik, Mentalitätsbildung, Kultur und Technik befaßt sind.

Grundlegender Umbau der tradierten Welt

Die historischen Soziologien greifen inhaltlich natürlich viel weiter in die Vergangenheit zurück, doch hat sich die Wissenschaft selbst als professionelle Gegenwarts- und Krisendisziplin erst im 19. Jahrhundert konstituiert. Eine interessante Vorgeschichte erstreckt sich von den schottischen Moralphilosophen (Smith, Ferguson), die die Auswirkungen der industriellen Revolution auf die Sozialstruktur untersuchen, über philosophische Gegner der französischen Revolution wie Bonald und die Sozialphilosophie der Romantik (F. Schlegel, A. Müller) bis hin zu Hegel, den etwa Hans Freyer als Ursprung der deutschen Soziologie ansetzt. Eine Definition bei diesem lautet bekanntlich, Philosophie bedeute, ihre Zeit in Gedanken zu fassen. Die professionelle Soziologie tritt demnach das Erbe der Geschichtsphilosophie mit modernen, erfahrungswissenschaftlichen Mitteln an. Diese ihre Zeitbezogenheit jedoch konnte zu entweder einem mehr philosophischen Erkenntnisinteresse, oder aber auch direkt planerischen Initiativen führen. Beides steht gleich am Beginn der eigentlichen Sozialwissenschaft, nämlich bei Auguste Comte (1798–1857). Mit ihm wird der vorliegende Band in chronologischer Hinsicht eröffnet, und zwar überraschenderweise nicht mit seinem klassischen "Cours de philosophie positive", sondern mit dem skurrilen Spätwerk des "Système de politique positive" (1851–1854), in dem der Autor nicht nur eine totalitär anmutende Reorganisation der Gesellschaft detailliert entwirft, sondern auch eine bizarre, atheistische "positivistische Religion" vorträgt.

Ein Zeitgenosse Comtes war der Engländer Herbert Spencer, dessen einflußreichstes Werk "Die Prinzipien der Soziologie" (1876–96) hier Aufnahme gefunden hat. Auch er war als Evolutionstheoretiker am strukturgesetzlichen Verlauf der Weltgeschichte interessiert. Sah Comte ein "3-Stadien-Gesetz" vor ("theologisch-metaphysisch-positiv"), nimmt sein Entwurf in wesentlichen Teilen die moderne Systemtheorie voraus mit ihrem hochabstrakten Bezugsrahmen und der Integration unterschiedlichster Disziplinen und Themen. Ihr Interesse gilt der zunehmenden Komplexität der Zivilisation, dieses "ungeheure, vielgestaltige Aggregat" (Spencer) als einen Prozeß der Ausdifferenzierung zu erfassen, in dem verschiedene Paradigmen der sozialen Gliederung ("segmentär-stratifiziert-funktionell") aufeinander folgen, um ins abstrakte Interaktionsgefüge der heutigen Welt zu münden.

Dieses Theoriedesign wurde in der Gegenwart von Niklas Luhmann (1927–1998) zu einer universellen Sozialphilosophie ausgebaut. Mit seinem letzten Werk, "Die Gesellschaft der Gesellschaft" (1997), welches das in "Soziale Systeme" (1984) vorgestellte Programm vollendete, schließt der Band in zeitlicher Hinsicht ab.

In der Moderne werden weltgeschichtlich erstmalig Potenzen wirksam, die einen grundlegenden Umbau der tradierten Welt erzwingen und zwar im Sinn einer "absoluten Kulturschwelle" (Freyer). Verdeutlicht hat dies vor vierzig Jahren einer der einflußreichsten deutschen Soziologen der Nachkriegszeit, Helmut Schelsky, in seiner wichtigen Schrift "Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation" (1961). Die Moderne setzt ein völlig neues "Weltverhältnis", indem Wissenschaft und Technik nicht mehr eine vorgegebene Welt verändernd bearbeiten, sondern im Vorgang von Analyse und Neuaufbau der Elemente nach dem Prinzip der höchsten Effizienz diese Realität überhaupt erst konstruieren. Durch die Universalisierung der Industriegesellschaft wird schließlich dann "der gesamte Globus in den Prozeß von Produktion, Konkurrenz und ökonomischem Wachstum einbezogen" (Stark).

Aus diesen Gründen waren die großen Soziologen der Jahrhundertwende, die absoluten Klassiker des Fachs, besonders interessiert an Themen wie dem neuzeitlichen Rationalisierungsprozeß (Weber), dem modernen Kapitalismus (Sombart), der Arbeitsteilung und der modernen Anomieerfahrung (Durkheim), dem Geld als universellem Medium (Simmel) oder der Urbanisierung (Chicagoer Schule). Das Bewertungsspektrum reichte dabei von optimistischen Zukunftserwartungen (Durkheim) über eine heroische Sachlichkeit (Weber) bis zu pessimistischer Kulturkritik.

Eine grundlegende Abhandlung hierzu verfaßte 1887 Ferdinand Tönnies mit seiner wirkungsmächtigen Schrift "Gemeinschaft und Gesellschaft". Sie analysiert idealtypisch die zwei prinzipiellen Möglichkeiten sozialen Umgangs, welche historisch verortet werden und gleichzeitig anthropologischen Grundeinstellungen entsprechen sollen. Korrelieren der wesenhaften Verbundenheit der traditionalen Menschen organische Lebensverhältnisse, die Lehre vom ganzen Haus und ein genossenschaftliches Denken, tendiert die auf dem rationalen Naturrecht basierte abstrakte Gesellschaft zum "Primat des Zweckkalküls" und instrumentalen Weltverhältnis. Interessant ist für den Artikel des Handbuchs, wie der Referent (Bickel) die Wirkungslinien bis in die Gegenwart auszieht und die aktuelle Modifikation dieses Entwurfs im amerikanischen Kommunitarismus erläutert.

Eine bedeutende Variante erhielt die Gemeinschafts-Lehre in der berühmten Dichotomie von Kultur und Zivilisation, die im Verein mit dem Bildungsbegriff zumal in Deutschland der maßgebliche semantische Horizont für die Geisteswissenschaften über Generationen hin wurde. Daß jedoch hier von einem "deutschen Sonderweg" keine Rede sein kann, zeigt ein Vergleich mit der viktorianischen Kulturkritik und Reformästhetik (Ruskin, Carlyle, Morris, Arnold). Den idealistischen, antiutilitarischen Kulturbegriff dieser Gruppe arbeitet die historische Kultursoziologie von Raymond Williams heraus: "Culture and Society 1780–1950" (1958). Der gläubige Christ, Max Scheler (1874–1928), fügte dieser Unterscheidung in wissenssoziologischer Absicht noch eine dritte, absolute Form des Wissens hinzu, das (religiöse) "Erlösungswissen" ("Die Wissensformen und die Gesellschaft", 1926).

Den demokratischen Mythos dekonstruiert

In der Gegenwart wird das Modernisierungstheorem weiterentwickelt von Autoren wie Anthony Giddens, von dem hier zwei Titel präsentiert werden, vor allem sein erst 1990 erschienenes Buch "Konsequenzen der Moderne". Entgegen manch postmoderner Position konstatiert er nicht ein Ende der Moderne, sondern deren Radikalisierung und Universalisierung. Die Globalisierung sozialer Interaktion wird möglich durch eine Abkoppelung von Raum und Zeit, durch die Entbettung sozialer Vorgänge aus ihren traditionalen Kontextbedingungen und, drittens, durch gesteigerte Reflexivität.

Wird diese vom prominentesten deutschen Philosophen der Gegenwart: Jürgen Habermas in seinem Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) eindeutig positiv gesehen, stand bei den Autoren der "Frankfurter Schule", Adorno und Horkheimer, der hypertrophierte Vernunftbegriff als technokratische Rationalität gerade im Zentrum der Kritik. Ihre "Dialektik der Aufklärung" (1947) verabschiedet den Fortschrittsoptimismus. Angesichts des totalen Charakters der modernen Gesellschaft, die das Individuum sich einverleibt, beurteilten sie die Gestaltungsmöglichkeiten demokratischer Politik pessimistisch.

Diese Resignation findet Ergänzung seitens einiger Elitetheoretiker aus dem Bereich der politischen Soziologie, die um die Jahrhundertwende sich kritisch den Institutionen der demokratischen Willensbildung zuwandten. Es sind dies im wesentlichen Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca und Robert Michels. Sie beschäftigen sich mit der Eigendynamik politischer Parteiapparate, deren interner Karrierelogik und oligarchischen Tendenzen, dem prägenden Einfluß moderner Verwaltungsbürokratien und der Manipulation durch politische Rhetorik. Während die Substanz des demokratischen Staats ausgehöhlt wird, ist für dessen Image wichtig, daß der demokratische Mythos weiterhin erhalten bleibt. Auf diesem Hintergrund erfährt das traditionelle Verhältnis von Souverän und Vertretung seine zynische Umkehrung. "Das Volk im Sinn des Ursprungs der politischen Herrschaftsgewalt wird dann zu einem Objekt der Staatstechniken selbst. Die heute wirksamen Humantechniken der Meinungsforschung, Information, Propaganda und Publizistik machen die politische Willensbildung weitgehend zu einem wissenschaftlich deduzierbaren und manipulierbaren Produktionsvorgang." (Schelsky)

In diesem Zusammenhang fällt als Manko ins Auge, daß zum einen Carl Schmitts scharfsinnige Beiträge zur Begriffsbildung einer ideologiekritischen Dekonstruktion von liberalen Politwerten aus der Weimarer Zeit nicht aufgenommen, zum anderen die aktuellen Kritiker der Massenmediengesellschaft weggelassen wurden, wie Postman oder Baudrillard.

Dafür begegnen wir den Zivilisationstheoretikern Norbert Elias und Michel Foucault, die in ihren großangelegten, historisch untermauerten Darstellungen Aufschluß zu geben vermochten über die Metamorphose der Macht in der Moderne. Elias zeigt in "Der Prozeß der Zivilisation" (1939), wie das menschliche Verhalten sich mit Beginn der Frühen Neuzeit ändert, wie langfristig die Affekte und Triebe in diesem Prozeß modelliert werden, der die traditionellen Außenzwänge in subjektiven Innenzwänge verwandelt. Dieser Grundgedanke von Elias wird in der Foucaultschen Diskursanalyse weiterentwickelt zu einer "Mikrophysik der Macht" und dem Konzept der modernen "Disziplinargesellschaft". Das Projekt der Moderne, sonst hochgemut gedeutet als Emanzipationsgeschichte und Siegesallee der Vernunft: hier zeigt es die dämonischen Züge von Unfreiheit, Kontrolle und Zerstörung des Individuums.

Diese Einsichten waren auch den Vertretern der "Leipziger Schule" nicht fremd, die hier mit je einem Hauptwerk vertreten sind: Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky. Man bedauert nur, daß zwar Freyers "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft" (1930) vorgestellt und kommentiert wird, seine reifsten und noch heute unüberholten Leistungen als Sozialwissenschaftler indes, nämlich das Spätwerk "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" (1955) und "Schwelle der Zeiten" (1965) leider fehlen. Immerhin ist auch dieser Artikel angereichert mit biographischen Daten, wissenschaftshistorischen Bezügen und wirkungsgeschichtlichen Aspekten und so zu einer kleinen, dichten Einzelstudie gerundet. Von Gehlen wurde – zwecks Rekonstruktion seiner Institutionenlehre – "Urmensch und Spätkultur" (1956) ausgewählt. Die breite und animierte Darstellung gerät zu einem der erfreulichsten Ausweisschilder des in allen Teilen erstaunlich objektiven Bandes.

Leitfiguren der USA: Manager und Therapeut

Das Verhältnis von Einzelnem und sozialer Gemeinschaft wird uns auch weiterhin beschäftigen, nicht nur in der Wissenschaft. Man lese doch einmal als Ausblick auf ein interessantes Seitenthema die jetzt hundert Jahre alte kultursoziologische Studie "Theorie der feinen Leute" (1899) des Amerikaners Thorstein Veblen, welche in der prestigegenerierenden Funktion des "demonstrativen Konsums" auf die heutige Identitätsbildung des Konsumenten über Markenartikel schon vorausweist.

Eines der neuesten Bücher hingegen ("Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft", 1985) stammt von einem, in der kommunitaristischen Debatte engagierten Autorenteam. Über empirische Untersuchungen gelangen sie für die amerikanische Gegenwartsgesellschaft zum Befund einer "Dominanz des Individualismus, die gemeinschaftliche Bindekräfte zerstört, privates und öffentliches Leben separiert und somit die institutionelle wie kulturelle Basis einer gelungenen menschlichen Existenz auflöst". Symptomatisch hierfür ermitteln sie als die beiden Leitfiguren des modernen Amerika – siehe da! – den Manager und den Therapeuten.

Alle, zwischen zwei und neun Seiten langen Artikel sind mit bibliographischen Angaben ausgestattet; der überaus inhaltsreiche Band schließt mit Chronik, Titel- und Sachregister.

 

Hauptwerke der Soziologe. Herausgegeben von Dirk Kaesler und Ludgera Vogt. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2000. 520 S., Ln., 48 Mark


 
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