© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/01 16. Februar 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Dalmatinischer Massenprotest
Carl Gustaf Ströhm

Kroatien, das längere Zeit aus den Medien verschwunden war, meldet sich auf unerwartete Weise zurück: Als ein Gericht in der Hafenstadt Rijeka einen Haftbefehl gegen den kroatischen General Mirko Norac und seine früheren Stabschef Oberst Milan Canic erließ, kochte die Volksseele in Dalmatien und der Region Lika über – in jenen Gebieten, die im "vaterländischen Krieg" von 1990 bis 1995 durch die serbische Aggression stark gefährdet waren.

Im Haftbefehl sahen viele Kroaten eine Vorstufe zur Auslieferung an das Haager Kriegsverbrechertribunal. General Norac wird verdächtigt, bei den Kämpfen um die Stadt Gospic Kriegsverbrechen an den dortigen Serben begangen oder zugelassen zu haben – oder aber, was das Wahrscheinlichste ist, verantwortlich für solche Taten gewesen zu sein, die sich möglicherweise ohne sein Wissen in seinem Befehlsbereich ereigneten.

Aus der Perspektive der Kroaten in Gospic, wo Norac Befehlshaber war, ist der General kein Verbrecher, sondern der Retter vor der serbischen Agression. Die jugoslawische Armee und die "Tschetniks" wollten Gospic in ein zweites Vukovar verwandeln. Die kroatische Stadt war heiß umkämpft – Tausende serbischer Granaten gingen auf sie nieder. Hätte die kroatische Verteidigung an diesem Punkt nicht standgehalten – die waffenmäßig weit überlegenen Serben wären bis zur Adria durchgebrochen und hätten damit Kroatien in zwei Teile zertrennt. Es wird dem jungen General Norac zugeschrieben, daß dies nicht glückte.

Ohne sein Zutun hat der "Held von Gospic" nun die schwerste innenpolitische Krise Kroatiens seit 1990 ausgelöst. In der dalmatinischen Hafenstadt Split gingen etwa 150.000 Menschen für Norac auf die Straße. Vorher war es vorübergehend zu Straßenblockaden entlang der Strecke Zagreb-Split gekommen. Erstmals seit dem Regierungswechsel vom Januar 2000 wurde der Ruf nach Neuwahlen laut. In Split trat der legendäre Befehlshaber der Kriegsjahre, General Janko Bobetko, vor die Demonstranten und erklärte, er und alle anderen Soldaten des "vaterländischen Krieges" hätten ihre Prüfungen auf den Schlachtfeldern bestanden und seien bereit, auch weiter "bis zum letzten Atemzug für Kroatien zu kämpfen".

Ein anderer Kriegsheld, der in den USA ausgebildete Generalmajor Krsticevic rief vom Rednerpult, man werde es nicht zulassen, daß "jedes serbische Weib, deren Sohn als Tschetnik gegen Kroatien mit der Waffe in der Hand gekämpft habe, unsere kroatischen Kämpfer jetzt vor Gericht anklagt." Ein Vertreter der Auslandskroaten beschuldigte die gegenwärtige Zagreber Linksregierung und Präsident Mesic, den eben erst errungenen eigenen Staat bewußt zu zerstören und die "Einheit des kroatischen Volkskörpers" zu unterminieren. Ferner war von einem "Judaslohn" die Rede, für den die Regierenden in Zagreb die Helden der Befreiung zu verkaufen bereit seien.

Mit dem Fall des – untergetauchten – General Norac, der in ganz Kroatien zu einer Symbolfigur wurde, stößt die Zagreber Regierung an schwer zu überwindende Grenzen. Die neuen Machthaber glaubten, durch Erfüllung aller Forderungen der EU als "Musterschüler" in den Genuß westlicher Hilfe und Investitionen zu gelangen. Dafür war man auch bereit, die eigenen Befreier und Kriegshelden zu opfern. Jetzt aber zeigt sich, daß sich die soziale Situation dramatisch verschlechtert hat und die Menschen zu zweifeln beginnen, ob diese Regierung wirklich die nationalen Interessen vertritt. Eine schwere Vertrauenskrise bahnt sich an – Instabilität könnte eine der Folgen sein.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen