© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/01 16. Februar 2001

 
"Unsere Interessen mit Härte verteidigen"
Wladimir Putin: Der Präsident der Russischen Föderation sprach vor seinen Diplomaten über die Ziele seiner Außenpolitik
Carl Gustaf Ströhm

Wir dokumentieren hier eine bislang nicht auf deutsch veröffentlichte und bislang nicht autorisierte Rede Wladimir Putins vor führenden russischen Diplomaten und Mitarbeitern des Außenministeriums der Russischen Förderation auf einer "Beratung der Führung des diplomatischen Dienstes der Russischen Föderation" vom 26. Januar 2001. Wir veröffentlichen das "außenpolitische Glaubensbekenntnis" Putins, das er im Moskauer Außenministerium ablegte und das im Westen weitgehend unbeachtet blieb, als Dokument im Wortlaut – und leicht gekürzt.

Verehrter Igor Sergejewitsch (Iwanow, Außenminister, Einfügung der Redaktion), verehrte Mitglieder des Kollegiums, in der neuen Konzeption der Außenpolitik Rußlands sind unsere nationalen Interessen auf die internationale Arena formuliert worden. Sie wurden mit den Aufgaben auf dem Gebiet der Verteidigung und der nationalen Sicherheit und mit der Gewährleistung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands abgestimmt. Immerhin gibt es zum ersten Mal nach einer ziemlich langen Zeit wieder eine klare, den Staat als Ganzes betreffende Strategie der Außenpolitik und der Sicherheit.

Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß es uns in unserer laufenden Arbeit gelungen ist, verschiedene konzeptionelle außenpolitische Gesichtspunkte auszuhalten. Im Ganzen konnten wir diese in eine abgestimmte Arbeit der Organe der Regierungsmacht, der gesellschaftlichen Organisation der Regierungsmacht, der gesellschaftlichen Organisationen und der Wirtschaftskreise zu verwandeln.

Die Herausforderungen, denen Rußland auf der Weltarena gegenübersteht, sind erheblich und ernst. Unter den Bedingungen der wachsenden Globalisierung muß unser Land erst noch seinen Platz finden. In diesem Zusammenhang ist unser strategischer Kurs auf Integration, Entwicklung eines breiten politischen Dialogs und auf gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit mit allen gerichtet, die dazu bereit sind.

Die Priorität liegt hier in der Schaffung einer stabilen sicheren Situation rund um Rußland, die es uns ermöglicht, unsere Anstrengungen und Ressourcen maximal auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes konzentrieren. Natürlich ist zum heutigen Tage das Arsenal unserer Mittel zur Einflußnahme auf die internationale Situation objektiv begrenzt. Um die Werte Ihres Kollegen, des russischen Dichters F. Tjutschew zu paraphrasieren: Es ist notwendig, daß Rußland seine Position im Ausland verstärkt – aber nach Möglichkeit so, daß "weder ein Gewehr noch ein Rubel bewegt werden muß".

Unter diesen Umständen wächst die Bedeutung analytischer Prognosen der Situation in den grundlegenden Bereichen unserer Außenpolitik um ein Vielfaches. Insbesondere dort, wo es noch erhebliche Konfliktpotentiale gibt. Das sind der Balkan, der Nahe und Mittlere Osten und Zentralasien. Wir können es uns nicht leisten, gehorsam hinter den Ereignissen herzulaufen.

Die wichtigste Zielrichtung unserer diplomatischen Arbeit ist die Sicherung der strategischen Stabilität. Die Rede ist von der Klarheit und Voraussetzbarkeit der weiteren Entwicklung der internationalen Beziehungen. Die Tatsache, daß Washington die Entscheidung über die Entwicklung des Raketenabwehrsystems einstweilen vertagt hat, bestätigt: Wenn man zielbewußt und durchdacht handelt, kann man viel gewinnen.

"Wir tun zu wenig für den Schutz unserer Diaspora"

Wir haben SALT 2 ratifiziert, den Vertrag über das allgemeine Verbot der Nuklearversuche. Wir haben gegenüber den USA und deren Verbündeten aktive Arbeit geleistet und werden dies auch weiter tun, ebenso mit China und anderen früheren Staaten der Sowjetunion. Als Fazit fand sich in der Frage der prinzipiellen und praktischen Bewertung die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft auf der Seite Rußlands. Und zwar sowohl die quantitative wie die qualifizierte Mehrheit.

Viel wird davon abhängen, wie dauerhaft wir die Beziehungen zur neuen US-Administration aufbauen. Das ist eine der wichtigsten bevorstehenden Aufgaben. Wichtig ist auch, daß wir unsere Interessen mit Härte, keinesfalls aber durch Konfrontation und Ultimaten verteidigen.

In diesem Zusammenhang möchte ich folgendes bemerken: Nicht selten hört man, daß wir uns angeblich "genieren", unsere Partner mit scharfen Fragen zu konfrontieren und daß wir schon vorher meinen, diese seien für sie unannehmbar. Die Kenntnis und die Berücksichtigung einer fremden Position sind gewiß dringend notwendig. Aber die grundlegende Orientierung muß klar sein – unsere eigenen natürlich sorgfältig begründeten Interessen.

Unser Land muß sich mit einer ganzen Reihe brennender Probleme auseinandersetzen. Das sind die regionalen Konflikte, der militante Separatismus, Terrorismus, die unkontrollierte Migration, das organisierte Verbrechen und anderes.

Besonders betone ich die Gefahr des internationalen Terrorismus und Fundamentalismus – islamischer oder anderer religiöser Richtung, sowie die Schaffung einer Art terroristisch-extremistischen "Internationale".

Unser direktes Interesse ist es, an der Schaffung effektiver internationaler Zusammenarbeit in all diesen Bereichen mitzuwirken. Auch das spezifische Gewicht der Wirtschaftsdiplomatie muß in der Arbeit des Außenministeriums und unserer Auslandsvertretungen zunehmen ...

Verehrte Kollegen, jetzt einige Worte über die Geographie unserer Außenpolitik. Unsere unbezweifelbare Priorität haben die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).

Rußland ist weiterhin der Kern der Integrationsprozesse innerhalb der Gemeinschaft. Aber als solches ist die Integration kein Selbstzweck. Sie wird nicht als Parole oder Aushängeschild gebraucht. Sie muß unserem Lande und unseren Mitbürgern realen Nutzen bringen. In den Beziehungen zu den Teilnehmerstaaten der Gemeinschaft muß ein gesunder Pragmatismus vorherrschen ...

Bei praktisch jedem meiner Besuche in den GUS-Ländern treffe ich mit Vertretern der russischen Bevölkerung zusammen. Und ich muß sagen, es gibt viele kritische Bemerkungen hinsichtlich unserer Arbeit, sowohl auf den Gebiet der Informationspolitik als auch hinsichtlich der unmittelbaren Arbeit mit den Menschen. Wir tun offenkundig zu wenig für den Schutz unserer Diaspora und hinsichtlich der Situation der russischen Sprache. Diese Fragen darf man nicht ausschließlich hart und konsequent stellen, sondern – was nicht weniger wichtig ist – auch argumentativ. Millionen von Menschen wurden über Nacht von ihrem Vaterlande abgetrennt – ohne die geringste Schuld. Davon müssen wir ausgehen. Ich verstehe, daß die Arbeit mit den Menschen viel Kraft erfordert sowie Geduld und diplomatischen Takt. Eine gewaltige Last liegt auf dem Konsulardienst. (…) Hier bedarf es sowohl der speziellen professionellen Vorbereitungen – und, wenn Sie so wollen, besonderer menschlicher Qualitäten.

Viele Angelegenheiten in Richtung Europa sind für uns traditionell sehr wichtig. In Europa gehen heute sehr dynamische Prozesse vonstatten. Es transformieren sich die europäischen Strukturen, es ändert sich die Rolle der großen europäischen Organisation ... In dieser Richtung wächst die Bedeutung unserer Beziehungen mit der Europäischen Union. Wir stellen uns heute nicht die Aufgabe einer Mitgliedschaft in der EU. Aber wir müssen danach streben, grundlegend die Intensität der Zusammenarbeit zu erhöhen.

Aus dem allgemein günstigen Kontext fallen offensichtlich einige Länder des Baltikums und Mittel- sowie Osteuropas heraus. Hier gibt es in der Arbeit des Außenministeriums noch Reserven. Als Beispiel mag hier die Regelung unserer Beziehungen mit Polen dienen. Der Augenblick ist gekommen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie man zu einer Klärung der Situation insgesamt gelangen kann.

"Die Linie einer Erweiterung der Nato ist falsch"

Nicht einfach verläuft die Normalisierung der Beziehungen zur nordatlantischen Allianz. Nach den Balkan-Ereignissen erlebten sie einen Rückschlag. Jetzt wird das Gewebe des gemeinsamen Handelns allmählich wieder hergestellt. Und das ist richtig so. Die Nato ist eine reale Größe der europäischen und Weltpolitik. Wenn es uns gelingt, Beziehungen im Geist der Offenheit und des konstruktiven gemeinsamen Handelns aufzubauen, dann wäre dies ein wesentlicher Beitrag zur europäischen Stabilität und zur Gewährung unserer eigenen Sicherheit.

Wir halten nach wie vor die Linie einer Erweiterung der Nato für falsch und sprechen offen davon, daß sie in unserem Dialog mit der Allianz prinzipielle Schwierigkeiten verursacht ...

Warum sollten wir unsere eigenen Fehler verheimlichen: In der Vergangenheit haben wir die Gelegenheit zum "Schlag" nicht ausgenutzt. Wir haben in vieler Hinsicht unprofessionell gehandelt. Jetzt ist das wichtigste, bei jeder Entwicklung eine angemessene Berücksichtigung unserer Interessen und Besorgnisse in konkreten praktischen Fragen durchzusetzen. Die nationale Sicherheit ist kein Handelsobjekt ...

Zunehmende Bedeutung gewinnt die asiatische Richtung. Ich möchte sofort sagen: Ich bin dagegen, abzumessen, wo wir mehr Prioritäten haben – in Europa oder in Asien. Bei uns kann es weder eine westliche noch eine östliche Orientierung geben. Die Realität liegt darin, daß ein Staat in der geopolitischen Lage Rußlands seine nationalen Interessen überall hat.

Eine solche Linie muß man konsequent durchhalten. Wir müssen unsere Position in allen asiatischen Angelegenheiten festigen. Der Weg dorthin führt durch die Intensivierung unserer Beteiligung an dem grundlegenden Integrationsstrukturen der asiatisch-pazifischen Region sowie – und auch das ist nicht weniger wichtig – durch den konsequenten Ausbau freundschaftlicher Beziehungen und praktischer Zusammenarbeit mit den führenden asiatischen Staaten, mit unseren Nachbarn.

Ich möchte besonders etwas zu jener Frage sagen, die nach meiner Überzeugung, für das Außenministerium und unsere diplomatischen Vertretungen eine der wichtigsten sein muß. Es geht um die positive Akzeptanz Rußlands im Ausland. Bis jetzt ist die Situation auf diesem Gebiet alles andere als günstig. Mehr noch, es gibt Tendenzen zu ihrer Verschlechterung. Die Massenmedien einer Reihe von Staaten verbreiten antirussische Stimmungen.

Jemandem nützt es offenbar, das Bild eines "gefährlichen" Rußland zu kultivieren. Das unterstützt nämlich die Rechtfertigung eines Kurses der Verstärkung militärischer Macht und des Anspruchs auf Wahrheit in letzter Instanz. Deshalb wird der Kampf um den Einfluß auf die öffentliche Meinung des Auslandes zu einem der brennendsten und aktuellsten außenpolitischen Probleme. Wir müssen das Niveau der Arbeit auf diesem Gebiet erheblich erhöhen.

Dazu muß man alle zugänglichen Mittel ausnutzen – durch Auftritte in den Massenmedien, Erweiterung der Kontakte zu gesellschaftlichen Organisation, durch Propagierung der Errungenschaften unserer Kultur und Wissenschaft. Aufgabe unserer diplomatischen Missionen ist es, die gesellschaftlichen Stimmungen zu analysieren, initiative Vorschläge zu machen und zu koordinieren.

Besondere Aufmerksamkeit möchte ich auf die Notwendigkeit einer aktiveren Arbeit mit den Vertretern der ausländischen Massenmedien zu lenken. Die Mitarbeiter des Außenministeriums sind verpflichtet, die Position Rußlands in allen auftauchenden Fragen zu erläutern, sowohl innerhalb des Landes, wie außerhalb seiner Grenzen. Danke für die Aufmerksamkeit.

Die Rede wurde aus dem Russischen übersetzt von Carl Gustaf Ströhm.


 
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