© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/01 16. Februar 2001

 
Pankraz,,
Georg Maurer und der Schneider als Historiker

Ein interessanter Wandel im Wortgebrauch bahnt sich an: Hat man früher die Vergangenheit regelmäßig "bewältigt", so wird sie seit neuerem "aufgearbeitet". An die Stelle der "Vergangenheitsbewältigung" tritt die "Aufarbeitung". Bei der publizistischen Behandlung der Fischer/Trittin-Affäre kam der Terminus "Vergangenheitsbewältigung" bereits gar nicht mehr vor. Die Vergangenheit der 68er wurde da nur noch "aufgearbeitet"; alle Seiten hielten sich an diese Sprachregelung, ohne daß ein Ukas dazu ergangen wäre.

Man mag darin einen Zug zur Verharmlosung sehen. Der Begriff der "Aufarbeitung" stammt aus dem Schneidergewerbe (worauf, wenn Pankraz richtig liegt, der verstorbene Leipziger Lyriker Georg Maurer als erster hingewiesen hat). In Notzeiten, wenn das Geld knapp und der Erwerb eines neuen Kleidungsstücks zu teuer war, ließ man sich vom Schneider ein altes, schäbig und fadenscheinig gewordenes "aufarbeiten", das heißt, es wurde gewendet, die ausgefransten Ärmel- und Hosenbein-Enden wurden neu vernäht, die Ärmelknicke (und manchmal auch die Hosenböden) mit herzförmigen "Aufnähern", sogenannten "Schonern", verstärkt.

Eine Vergangenheit "aufzuarbeiten" heißt im Grunde, sie so lange wie möglich lebendig und vorzeigbar zu halten, ihr ein neues "Outfit" zu verpassen, ohne ihr dabei an die Substanz zu gehen. Das ist das genaue Gegenteil von "Bewältigung". Denn selbst wenn "Bewältigung" nicht völlig das Gleiche wie "Überwältigung" bedeutet, so weist sie doch eindeutig in Richtung "Überwindung". Etwas bewältigen heißt, es zu überwinden, sich nicht mehr mit ihm öffentlich zu zeigen, es gleichsam zu depotenzieren, stillzustellen und nötigenfalls mit einem Warnschild zu versehen: "Achtung, vermintes Gelände!"

Wer die Vergangenheit aufarbeitet, will sie gerade nicht bewältigen, will sie vielmehr (ebenfalls ein Wort aus der Schneiderbranche) "auftragen". Er will sich also zumindest so lange mit ihr äußerlich identifizieren und sich mit ihr schmücken, bis etwas Neues, Vergleichbares und Bezahlbares gefunden ist.

Für Aufarbeiter ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart das Problem. Der Stand der Aufarbeitung drückt (freiwillige oder unfreiwillige) Gegenwartsskepsis aus. Man ist der Gegenwart aus irgendwelchen Gründen nicht gewachsen, ist nicht recht in ihr angekommen und versucht nun, sie mittels Auftragen des Aufgearbeiteten zu überdauern.

Die Psychologie der Vergangenheitsbewältigung unterscheidet sich fundamental von der der Vergangenheitsaufarbeitung. Ist oder war jemand persönlich in die zu bewältigende, respektive aufzuarbeitende Phase verstrickt, so wird er als Bewältiger jeden Anflug von Rechtfertigung, gar von Selbstglorifizierung vermeiden. Es gilt – um im Stil der Altkommunisten zu sprechen – die volle Wucht von "Kritik und Selbstkritik". Der sich zu seiner Vergangenheit Bekennende muß mental ganz und gar von ihr Abschied nehmen, muß sich vor den Augen der Gemeinde bis auf die Scham entblößen und reuevoll im Staube kriechen.

Und die Gemeinde ihrerseits muß den Reuigen gnadenlos im Saft seiner Reue schmoren lassen, muß ihn mit Kritik geradezu zuschütten – weil andernfalls jedes Gemeindemitglied, das es auch nur ansatzweise an kritischer Härte fehlen läßt, sofort selber zum Gegenstand der Kritik wird und in den Stand der Selbstkritik fällt. Peitsche, oder du wirst gepeitscht – so lautet die Devise der Vergangenheitsbewältigung.

Bei der Vergangenheitsaufarbeitung geht es sehr viel gemütlicher zu. Der Sünder muß sich nicht demütigen, die Gemeinde wartet geradezu darauf, gute Erklärungen dafür zu erhalten, warum und weshalb und wieso es damals mit ihm so und so gelaufen ist. Die edlen Absichten werden herausgestellt, die Fallstricke, in die ein nichtsahnender Jüngling so leicht hineingeraten kann, und es fehlt nicht der Hinweis, daß doch auch "die Anderen" fehlgeleitet waren. Ganz schnell werden die Beweislasten umgekehrt.

Ob eine Vergangenheit bewältigt oder aufgearbeitet wird, hängt in den seltensten Fällen von Schuld und Sühne ab oder davon, daß die beiden ins richtige Maß kommen. Vielmehr ist es stets das aktuelle, lebendige Interesse der Gegenwart, das über den Umgang mit der Vergangenheit entscheidet. Vergangenheit "an sich" gibt es ja gar nicht, sonst wäre sie keine Vergangenheit. Es gibt Vergangenheit nicht einmal als einen Erinnerungstext in unseren Genen, der jedem Baby von Geburt an beigegeben wäre.

Was es einzig gibt, ist eine kollektive Verabredung der Lebenden, dieses und jenes, welches mehr oder weniger vage in den "Quellen" aufleuchtet, zur Vergangenheit zu erklären und daraus eine kulturelle Tradition zu zimmern, beziehungsweise damit handfeste Politik zu machen. Insofern ist auch die peinvolle Bewältigung eine Art Aufarbeitung, eine negative Aufarbeitung, wo die ausgefransten Stellen, die Löcher und Schäbigkeiten vom Schneider nicht versteckt, sondern im Gegenteil extra herausgenäht werden.

"Aufarbeitung" ist der ehrlichere, der genauere Terminus. Noch das reinste, unparteiischste Bemühen, den Quellen und niemandem als den Quellen zu folgen und die historische "Wahrheit" sine ira et studio freizulegen, ist Aufarbeitung. Die einzige wirkliche Alternative zu ihr ist das Vergessen. Aber diejenigen Zeiten sind die traurigsten, wo viele Zeitgenossen, angeekelt von einer ins Irre vorgetriebenen Vergangenheitsbewältigung, sich nach Vergessen zu sehnen anfangen.

Denn letztlich lebt die Gegenwart nur aus der Vergangenheit, obwohl es diese "pur" gar nicht gibt. Es kann immer nur darum gehen, etwas aufzuarbeiten, weil wir eben nie voll in der Gegenwart ankommen, am wenigsten durch Vergessen.


 
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