© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/01 16. Februar 2001

 
Der moderne Islam
von Hans-Peter Raddatz

Dem Beobachter der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung des vergangenen Herbstes bot sich eine vielschichtige, nicht minder verwirrende Szenerie. Der Bundestagspräsident ortete nicht nur den Rechtsextremismus "in der Mitte der deutschen Bevölkerung", sondern nahm auch eine Aufgabe als Schirmherr einer hochkarätigen Veranstaltung des Weltislam wahr, zu dessen erklärten Langzeitzielen die vollständige Vernichtung des Judentums gehört. Die CDU, die seit Jahren Kontakte zu radikalislamischen Gruppierungen pflegt, löste mit ihrem Begriff der deutschen "Leitkultur" massive Einwände des Zentralrats der Juden in Deutschland aus. Ein anderes Mitglied dieses Gremiums hatte vor der Evangelischen Akademie erklärt, daß Versöhnung ohnehin sinnlos sei, und in den Jahren zuvor von den Deutschen besondere Toleranz gegenüber dem Islam eingefordert.

Das gemeinsame Merkmal dieser Aussagen und Handlungen ist ihr widersprüchlicher und aktionistischer Charakter, der sich scheinbar isoliert im politischen Raum vollzieht, dabei allerdings in der Gesamtheit durchaus ein Konzept erkennen läßt. Es zeichnet sich die Handhabung des Rechtsextremismus als Herrschaftsmittel der politischen Führung gegenüber der Bevölkerung und des Judenrats gegenüber der politischen Führung ab. Dieser Konstellation hatte bereits im vergangenen Jahr die Sicht des Außenministers, der zufolge der Holocaust den "Gründungsmythos" der Bundesrepublik Deutschland bildet, eine Grundlage und zugleich griffige Formel verliehen.

Dieses konkret-politische Szenario läßt sich einbetten in eine übergeordnete, religiös-ethische Ebene, die sich seit Jahrzehnten in Gestalt thematisch weitgespannter Diskussionen im interreligiösen und multikulturellen Bereich entfaltet. Hier hatte schon vor knapp vierzig Jahren das Zweite Vatikanische Konzil die Vorstellung eines gemeinsamen Gottes mit dem Islam entwickelt, die sich zusammen mit weiteren theologischen Gemeinsamkeiten, die man im Laufe der Zeit zu finden glaubte, zu der neuen Glaubensform des Dialogs mit den anderen Religionen verfestigte. Dieser Glaube konnte seinerseits rasch hoch-dogmatischen Charakter annehmen, da ein – wie man es nannte – "Rückfall hinter das Konzil" grundsätzlich ausgeschlossen wurde. Ein solcher "Glaube" konnte zur Basis einer umfassenden Moral werden, die sich im Rahmen wachsender Migration ganz besonders der zahlen- und profilmäßig stärksten Gruppe, den Anhängern des Islam, zuwandte.

Im Zentrum des Dialogs, der in Kirchen, Parteien, Stiftungen und diversen Instituten mit zunehmender Stringenz betrieben wurde, steht der Islam als Religion der Toleranz, der gerade die Christen als Anhänger einer Religion der historisch erwiesenen Intoleranz mit besonderer Konzilianz entgegenzutreten haben. In der Begegnung mit der islamischen Kultur trifft dies noch viel mehr auf die Deutschen zu, deren kulturelle Vergangenheit sich nach dialogischer Auffassung vor allem im Kulturbruch des National-Sozialismus konzentriert, und mithin ein Urteil über andere Kulturen, geschweige denn ihre Beeinflussung im Rahmen der Zuwanderung, strikt ausschließt, zumindest weitgehend einschränkt, womit sich auch das Wort von der "Leitkultur" zwangsläufig zum Unwort wandelte.

Hier schließt sich der Kreis zum Holocaust als Gründungsmythos zukünftiger deutscher Existenz, in dessen ideologischer Heilsgewißheit sich eine umfassende, historisch gänzlich neue Form der Toleranz formt. Es ist dies eine globalethische Zwangstoleranz, die bei Akzeptanz aller Kulturen und Religionen die Wahrnehmung eigener Interessen zur Intoleranz erklärt. Da auf die herkömmliche, historische und sachliche Analyse weitgehend verzichtet wird, kann der interkulturelle Dialog hinsichtlich des Islam zu einem Bild der umfassenden Toleranz gelangen, das sich aus einem rasterartigen Katechismus von Standardaussagen zusammensetzt.

Dieser Katechismus wird von der Mehrheit der "Eliten" in nicht endenwollenden Variationen ungeachtet einer Realität, die seinen Aussagen zum Teil diametral entgegensteht, wiederholt. So ist der Islam, dessen Anhänger sich weltweit am Koran und dem Gesetz Allahs orientieren, kein "Monolith", und die "Fundamentalisten", die eine besonders stringente Orientierung an diesen Grundlagen fordern, gehören nicht zum "eigentlichen" Islam, wobei die Beschaffenheit des letzteren unklar bleibt. Gegenargumente werden intellektuell nicht zur Kenntnis genommen, sondern verpuffen wirkungslos im Raum, nachdem sie zuvor weitere Wiederholungen des jeweils benutzten Aussage- Stereotyps ausgelöst haben.

Im Rahmen der laufenden Zuwanderung bleiben einer solchen Wahrnehmung Gegensätze sowohl der politischen als auch der theologischen Art verborgen, wie auch zum Beispiel der seit den achtziger Jahren laufende Massenmord an den sudanesischen Christen mit etwa drei Millionen Opfern kaum zur Kenntnis genommen wird. Der kognitive Charakter des interkulturellen Dialogs ist somit vor allem durch eine auffällige Beschränkung auf isolierte Einzelaspekte gekennzeichnet, die ohne sachlichen oder historischen Bezug im Rahmen reflexhafter "Argumentationen" zur Anwendung kommen.

Auf diese Weise hat sich der "Dialog" inzwischen umfassende Positiv- bzw. Negativfilter angeeignet, die im Prinzip jede Fremd- bzw. Eigenbeurteilung zu passieren hat, bevor sie das Siegel der offiziellen, d.h. ideologischen Brauchbarkeit erhalten kann. Da sich dieser Prozeß nicht im theoretischen Raum abspielt, sondern über das Medium der Migration direkt auch mit übergeordneten Wirtschaftsinteressen interagiert, erhält er eine ganz konkrete, kommerzielle Bedeutung als eine Art "Kulturlobby" der Globalisierung. Die Zugehörigkeit zur Elite des Dialogs wird also nicht nur durch eine besondere ideologische Konsequenz gefördert, sondern darin auch durch ein hierarchisches und finanzielles Belohnungssystem effektiv bestärkt.

Diesem Belohnungssystem steht auch ein entsprechender Strafkatalog gegenüber, der die Dialogisten tendenziell zwingt, sich in der positiven Sicht des Fremdkulturellen gegenseitig zu überbieten. Durch die fortlaufende Standardisierung des Dialogkatechismus kann der einzelne Dialogvertreter nur noch über Intensität und Häufigkeit seiner Gedankenproduktion Profil erlangen. Die hier bewirkte Beschleunigung erhöhte die verbale und "literarische" Gesamtproduktion des Dialogs – bei inhaltlicher Stagnation – inzwischen auf enorme Ausmaße.

Wie in der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder deutlich wurde, erzeugte der wissenschaftliche Fortschritt eine wachsende Spezialisierung in Einzelgebieten, während gleichzeitig die Fähigkeit zur Erfassung der Gesamtkomplexität und ihrer Wirkung auf das eigene Kultur- und Sozialverständnis abnahm. Die damit einhergehende Abkoppelung von übergreifenden Weltbildern der traditionellen Eigensphäre wie der christlichen Religion zog eine gleichermaßen ansteigende Orientierung auf fremdkulturelle Konzepte nach sich, die sich auf eine damit kompatible Moraldoktrin zu stützen begann.

Je weiter die Wissenschaften allerdings in das Einzelwissen vordrangen, desto schwächer wurde ihre Fähigkeit, einen tragfähigen Kontext für die tatsächliche, kulturelle Wirklichkeitsorientierung im mittleren Bereich der Lebenswelt verfügbar zu halten. Ein zusätzliches Problem lag in der ständigen Beschleunigung, die diesem Vorgang innezuwohnen schien. Im Maße des wissenschaftlichen Fortschritts bleibt damit der kollektive Erkenntnishorizont über die eigene Lebensbasis, die "Urteilsreichweite" des Gemeinsinns, hinter der zusammengefaßten Relevanz aller wissenschaftlichen Einzelerkenntnisse für eben dieses Gemeinwesen relativ zurück - ein grundlegender Effekt, der in den Umweltkonflikten besonders deutlich und zuweilen katastrophal zutage tritt.

Mit zunehmender Komplexität und Technisierung der gesellschaftlichen Lebenswelt nimmt also auch die Autonomie der individuellen Lebenserfahrung und der Autarkiegrad des Gemeinsinns, die Reichweite, mit der die Gemeinschaft über ihre Voraussetzungen kompetent urteilen kann, ab. Da der Bildungsgrad als Funktion dieses Zusammenhangs gleichzeitig sinkt, muß der Kompetenzverlust des Gesamtwissens durch Vertrauen in das Einzelwissen der Experten ersetzt werden, das allerdings in Relation zum jeweiligen Ganzen ebenso schrumpft. Somit existiert kein Vertrauensbezug gleichbleibender Stabilität – die klassische "Basis" des postmodernen Relativismus.

Religiös, politisch und kulturell erlangte die Fremdsphäre in dem Maße übergreifenden Sinn, in dem Verluste des Vertrauens in die eigene Religion, des gemeinschaftsbildenden Wissens und der zivilisatorischen Kompetenz die Zustimmung zum Eigenen zu versperren begannen. Machterhalt in Kirche, Politik und Wissenschaft ist daher ohne Zustimmung zum Fremden nicht mehr denkbar. Ein wesenhaftes Merkmal dieser Zustimmung muß dabei die systematische Abwehr von Fakten sein, weil systemwidrige Fakten den Machterhalt in Frage stellen. So wird zum Beispiel die vergreisende Bevölkerung in Deutschland eher durch Zuwanderung aufgefüllt, als die komplexen Zusammenhänge zwischen demographischer Entwicklung, zivilisatorischem Erkenntnisschwund und dem sich anbahnenden Zusammenbruch des Generationenvertrags einer differenzierten Analyse zu unterziehen.

Neben der schwindenden, sachlichen Urteilsreichweite erhält das wachsende Vertrauen in das Fremde zusätzliche Nahrung durch die gleichermaßen abnehmende Zukunftsgewißheit. Da die Menge der die Lebenswelt verändernden Ereignisse pro Zeiteinheit mit der Menge des verfügbaren Wissens steigt, entsteht der Zwang, sich immer schneller auf immer speziellere Bereiche zu konzentrieren – der Effekt der sogenannten Innovation. Mit ihr verkürzt sich der zeitliche Abstand, der die jeweilige Gegenwart von einer Zukunft mit veränderten Bedingungen trennt - nichts anderes als der westliche Treibsatz zur "Pluralisierung" und "Erneuerung". In seinen bemerkenswerten Ausführungen über den "Lebenssinn der Industriegesellschaft" umschreibt H. Lübbe diesen Ablauf mit dem Begriff der "Gegenwartsschrumpfung", mit dem zum Ausdruck gebracht wird, daß zivilisatorischer Fortschritt einem Rückschritt in der Fähigkeit zur Integration von Vergangenheit und Zukunft in der Zeit entspricht.

Es ist evident, daß mit der Intensität dieser Entwicklung auch der Betrag integrierter Vergangenheit im laufenden, dem Zwang der Schrumpfung ausgesetzten Gegenwartsbegriff abnimmt. Damit kann auch im Bereich des Eigenen ein fester Wahrheitsbegriff umso geringere Verwurzelung finden. Wissenschaftsfortschritt bedeutet also nicht weniger, als daß der systematischen, sich dazu beschleunigenden Gegenwartsverengung sowohl der Rückgriff auf die Vergangenheitserfahrung als auch die Urteilsreichweite in die Zukunft zum Opfer fallen.

Das menschliche Bewußtsein ist allerdings nun der Raum, in dem sich im Gegensatz zum gegenwartslosen, physikalischen System überhaupt irgendein Sinn für Zeit etablieren kann. Die Selbstorganisation aller formschaffenden, auch der kognitiven Prozesse modifiziert Strukturen über die Zeitschritte im Lebensraum. Dabei bleiben ohne die laufende Wiedererkenntnis des Gewesenen aus dem Gewordenen die jeweilige Vergangenenheit und Gegenwart nichtverwandte und beziehungslose Zeitmomente. Ohne ein Gedächtnis des Gewesenen ist daher kein formbildender geistiger Prozeß, geschweige denn ein Selbstbewußtsein zu bewahren, das ein Vorher mit dem Nachher verbinden könnte.

Erleben und Verstehen sind Resultate kohärenter Bilderfolgen, die das Ich des Menschen einem Gedächtnisspeicher astronomischen Umfangs zur Formation der laufenden Gedankenkonfigurationen unbewußt entnimmt. Das Ich erlebt sich als Fluß aus der Vergangenheit in die Zukunft, wobei beide nicht abgeschlossen, aber aufeinander bezogen sind, und jeweils ohne diesen Wechselbezug unvollständig bleiben.

Die Vergangenheit muß also die Gegenwart in irgendeiner Form bestimmen, um Erwartungswerte für die Zukunft erzeugen und damit die zeitliche Gesamtstruktur des Bewußtseins bewahren zu können. Subjektives und damit zeitliches Bewußtsein muß die Gegenwart in Richtung Vergangenheit "gedehnt" halten, um die kontinuierliche Aufnahme von Eindrücken, die zukunftsgerichtete Korrelation und Planungsfähigkeit und damit seine geistige Existenz insgesamt aufrechterhalten zu können.

Die Zeitlichkeit des bewußten Ich entsteht somit als laufende Fusion der Gegenwart mit der erinnerten Vergangenheit. Die revolvierende, geschichtliche Prägung der Erlebniswerte begründet das in die Zukunft gerichtete Zeitgefühl des Bewußtseins. Zum intakten Ich gehört somit das Sein, dessen Zukunftserwartung sich in der ständigen Verarbeitung von Vergangenheitserfahrung mit der Gegenwartswahrnehmung spiegelt, ein grundlegender Zusammenhang, zu dem Heidegger den Satz beisteuerte, daß "die Zeit der Horizont des Seins" sei.

Die gesamte Wirklichkeit entsteht durch die ständige Herstellung von Bezügen zwischen zeitlichen und ursächlichen Folgen, die Wichtung des Nacheinander und der Kausalität erinnerter und erlebter Ereignisse und ihrer Konfigurationen sowie durch das Erkennen von Verschiedenheiten in der Ebene (Gegenwart) bzw. Verschiedenzeitigkeiten im Raum (Vergangenheit). Je flacher sich dabei die erinnerten Objekte und Sachverhalte in der Tiefe der Vergangenheit staffeln, desto weniger Wichtung kann in die laufende Gegenwart eingehen und desto unstrukturierter, planloser und verunsicherter gestaltet sich die Zukunftserwartung. Damit geht zugleich eine zeitliche Verkürzung der Gegen-wartsdehnung und eine Beschleunigung des subjektiven Zeittempos einher, womit sich wiederum die bewußte Reflexion erschwert.

Die raumzeitliche Verflachung in der kognitiven Verschränkung von Vergangenheit mit erlebter Gegenwart reduziert unmittelbar die geistige Kreativität. Komplexe Gedankennetze höherer Ordnung werden aus einem gedehnteren Zeitbereich intakter Bewußtseinsbildung in verengtere Gegenwartsräume mit leistungsärmeren Denkebenen gezwungen. Der damit verbundene Abbau korrelativen Denkens und zeitbewußter Identität entspricht nicht nur der oben skizzierten Selbstrelativierung der wissenschaftlichen Fortschrittsdynamik; er bedeutet darüber hinaus nicht mehr und nicht weniger als eine fundamentale, gedankliche Rückentwicklung, eine Art Biologisierung des Geistes, die sich in der Wiederannäherung an seine materiell-neurophysiologische Basis ausdrückt.

Der Verlust der erinnernden Konfiguration, des raumzeitlichen Ereignisvergleichs und des subjektiven Zeitflusses transformiert die bewußte Identität in ein gegenwartsloses System mit objektiver Zeitrichtung. Somit entsteht die Zwangstendenz zu Systemebenen mit reduzierten Potentialen des Zeitbewußtseins und damit bewußter Identität, d.h. mit entgeistigten, eher biologischen Eigenschaften.

Insbesondere der bekannte amerikanische Zeitforscher J. Fraser hat auf die physikalischen, sogar "protozeitlichen" Komponenten im kollektiven Verhalten großer Massen aufmerksam gemacht, die nach seiner Ansicht im westlichen Zivilisationsfortschritt eher zunehmen, und somit eine günstige Basis für eine geistig uniformierende Massenideologie bilden.

Wie erwähnt, läßt sich als Hauptmerkmal der interkulturellen Moraldoktrin eine klare Tendenz zu reflexhafter Wiederholung von Einzelaspekten unter stereotyper Abwehr konträrer Fakten feststellen. Als Begleiterscheinung oder Folge dieses Zwangsverhaltens tritt eine ebenso auffällige Neigung zu automatenhafter Pauschalisierung des Negativen im Eigenen und des Positiven im Fremden zutage, die den Charakter eines physikalisch wirkenden Negativ- bzw. Positivfilters annehmen kann. Dies ändert nichts an der vordergründig ideologischen Ähnlichkeit dieser Doktrin mit einer kantischen Gewissensmoral.

Es läßt sich damit also eine offenbar bewußtseinsbedingte, uniformierende Tendenz feststellen, die in der Moraldoktrin des Dialogs eine besonders deutliche Version findet. Diese Tendenz verdankt sich einem kognitiv verankerten Abbau des Denkraums, der wiederum unausweichlich in den Gegenwartsschwund der Fortschrittsdynamik eingebettet ist. Aufgrund abnehmender Fähigkeit zur gedanklichen Korrelation erzwingt dieser Abbauprozeß eine irreversible Tendenz zu monotonem Denken, das sich in reflexhaftem Verhalten spiegelt. Der subjektive Zeitsinn und die aktive, verfügbare Gegenwart können nur in entsprechend schwindendem Umfang Vergangenheit integrieren und Zukunft planen. Wir kennzeichnen diesen Zusammenhang als Geistschwund aus liberalem Fortschritt.

Die zeitverengenden Mechanismen der Fortschrittsdynamik erzwingen demnach einen kollektiven Rückbau konstruktiven Denkens insgesamt. Die Schrumpfung der Gegenwart und das systematische Verschwinden der Zeit aus dem Bewußtsein verengen den zeitlichen Integrationsraum und bewirken den zunehmenden Verlust des Denkens in Assoziationen, Konfigurationen und logischen Verknüpfungen in Zeit und Raum. An die Stelle des fundamentalen Bauprinzips der Vernetzung ist das "Denken" in isolierten Einzelpunkten getreten. Dieser statischen Fragmentlogik ist der Zugang zu den dynamischen Ankerpunkten des zeitintegrierenden Bewußtseins und damit zu einer Eigenzeit, welche die Vergangenheit konstruktiv integriert, zunehmend versperrt. Die Verflachung der geistigen Strukturtiefe ermöglicht dabei eine sich fortlaufend verbessernde Prognose der Denkqualität in Richtung konsequent wachsender Irrationalität.

Wie sich in den obigen Beispielen andeutete, erscheinen somit die religiös-politischen Dialoggruppen als eine vorhersagbare Moralelite, deren Führerschaft darin besteht, den Prozeß der gesellschaftlichen Entgeistigung für den Einheitsprozeß mit den anderen Kulturen – zum Beispiel im Rahmen der EU-Migrationspolitik – zu instrumentalisieren. Während sich ihre Machtbasis unablässig verstärkt, übernehmen die Eliten die Führung im gesellschaftlichen Auflösungsprozeß, in dem sich die fortschreitende Demontage des logisch-raumzeitlichen Denkens und damit des traditionellen Interesses widerspiegelt.

Kein Begriff könnte diesen Prozeß der kontinuierlichen Entleerung der Bewußtseinsidentität besser kennzeichnen als die sogenannte, unter allen Umständen zu vermeidende, sozusagen auszugrenzende "Ausgrenzung". Da von einer abnehmenden Geistqualität auszugehen ist, die sich durch Entsorgung gewachsener Strukturen von einem komplex-nichtlinearen in ein physikalisch-lineares System rückentwickelt, erfordert dieser Prozeß den Abbau aller Strukturen, deren Grenzen zuvor die Komplexität der vergangenen Eigenidentität geformt hatten. Unter dem Druck des sich laufend verengenden, fortschrittsorientierten Zeithorizonts sind somit alle Grenzen, die zuvor die "Identität", das gemeinsame "Wertesystem" aus Religion, Kultur, Herkunft, Familie etc. geformt hatten, zu entgrenzen. Dieser Auflösungsprozeß vollzieht sich mehrheitlich jedoch nicht als Ausdruck einer herkömmlichen Ideologie, sondern als eigendynamischer Prozeß, als fundamentaler Bewußtseinsabbau der westlichen Zivilisation, dem sich die beschriebenen Moraleliten als Lenkgremien voranstellen. Wenn diese dabei als echte Eliten, also als führende Zugkräfte dieses Abbauprozesses wirksam werden sollen, muß ihre Aufgabe in der Verstärkung der geistigen Destruktion, in der gesamt-gesellschaftlichen Nivellierung und damit im Ausbau der Macht liegen.

Konsequenterweise erzwingt eine solche Entwicklung die Tendenz zu inkompetenten Politikern mit fragwürdiger Vergangenheit, mediokren Wissenschaftlern mit Gefälligkeitstheorien und schlicht unchristlichen Kirchenleuten, deren Systemlogik die Fortsetzung des Geistabbaus begünstigt. Dabei handelt es sich bei dieser Negativspirale um nicht weniger als die Logik des liberalen Fortschritts selbst, die zudem mit erheblichen Finanzmitteln unterstützt wird, weil sie die Rationalisierung der Arbeit im Kontext der Globalisierung fördert. Somit könnte die Kujonierung Österreichs im EU-Rahmen den Beginn einer Entwicklung mit totalitärem Potential markiert haben. Die Zivilisationsforschung ist bereits zu dem Schluß gekommen, den sich in einem solchen Prozeß herausbildenden Eliten "Terrorfähigkeit" attestieren zu müssen.

 

Dr. Hans-Peter Raddatz ist Orientalist und Volkswirt. Der hier abgedruckte Beitrag stützt sich auszugsweise auf sein demnächst erscheinendes Buch "Von Gott zu Allah? – Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft" (Herbig, München 2001).


 
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