© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/01 23. Februar 2001

 
Ein Mythos wird entzaubert
Die Chiffre "1968" dient heute als Herrschaftsinstrument
Werner Olles

Marx hat im 18. Brumaire des Louis Napoleon, sich auf Hegel beziehend, erklärt, daß sich alle welthistorischen Ereignisse wohl tatsächlich zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie und das andere Mal als Farce. Dies, so sollte man meinen, trifft auch auf die Mythenbildung zu. Während jedoch die nationalen Gründungsmythologien immer die kollektive Leistung eines Volkes artikulieren, das sich aus dem Naturzustand auf eine höhere Stufe der Zivilisation erhoben hat, so kommt die Geschichte der Achtundsechziger eher einer Parodie dieses Sachverhalts gleich. Eines aber hat sie mit jeder Mythenbildung gemein: "Die Lüge des heroischen Mythos gipfelt in der Vergottung des Heros", schreibt Freud in seiner "Massenpsychologie". In diesem Sinne ist der 68er-Mythos heute nichts weiter als ein Herrschaftsinstrument in den Händen unserer neuen politischen Klasse.

Von Pier Paolo Pasolini, dem großen italienischen Dichter, Journalisten und Regisseur, gibt es ein berühmtes Gedicht aus dem Jahre 1968: "Die KPI an die Jugend!" Pasolini, ein sehr genauer Beobachter der in alle Bevölkerungsschichten und Lebensbereiche vordringenden allgemeinen Entfremdung, war Kommunist und Linker, was nicht unbedingt immer gleichzusetzen ist, in seinem Falle aber schon. In diesem Gedicht distanziert er sich nachdrücklich und eindeutig von den linksradikalen Studenten, die in einer der ersten großen Straßenschlacht im Frühjahr 1968 in Rom die Polizei in die Defensive gedrängt hatten. Er bezeichnet die Studenten wörtlich als "bourgeoise Müttersöhnchen" und solidarisiert sich mit den verprügelten Polizisten, weil sie "die Söhne von armen Leuten aus ländlichen oder städtischen Randzonen sind".

Als Marxist hat Pasolini Gewalt zwar nicht generell abgelehnt, aber sich dann doch klar gegen die Attentate und Entführungen der in den siebziger Jahren relativ starken italienischen Stadtguerilla "Brigate Rosse" ausgesprochen, was ihm von der Linken ziemlich übelgenommen wurde. Als er sich auch noch gegen die Freigabe der Abtreibung wandte und vehement gegen die sexuelle Permissivität in der Gesellschaft polemisierte, der es nur scheinbar um das Glück der Menschen, in Wahrheit vielmehr um ihre Dressur zu guten Konsumenten und die Erweiterung der Märkte ging, war die Isolation dieses Häretikers und Dissidenten der marxistischen Religion nahezu vollkommen.

Von Pasolini, der den heraufziehenden neuen Totalitarismus im Gefolge der Achtundsechziger schon bemerkte, als die allermeisten Konservativen und Rechten noch den Schlaf der Gerechten schliefen, und der die Duldung der für das neue System von Herrschaft "unentbehrlichen hedonistischen Ideologie" als "die schlimmste aller Repressionen der Menschheitsgeschichte" bezeichnete, weil sie die alten kulturellen Modelle verleugnete, führte leider kein gerader Weg in die Bundesrepublik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Seinen fast schon verzweifelten Mut, dem durch den 68er-Karneval in den Sattel gehobenen ausufernden Liberalismus, dem es letztlich allein um ökonomische Ziele ging, entgegenzutreten, besaß hierzulande kaum jemand, jedenfalls kein Intellektueller.

Am ehesten verstanden noch die Arbeiter in den Betrieben – von uns hämisch-überlegen und so ganz und gar nicht im Sinne einer angeblich angestrebten Emanzipation und Selbstverwirklichung des Individuums als "lohnabhängige Massen" diffamiert –, daß die Demontage bürgerlicher Wertorientierungen durch die Achtundsechziger dem entfesselten, zynischen und von allen ethischen und sozialen Bindungen losgelösten Vernutzungskapitalismus Tür und Tor öffnen würde. Ohne jemals vom DIAMAT, dem dialektischen Materialismus, etwas gehört oder Marx gelesen zu haben, der das Fortbestehen traditioneller Gesellschaften als das größte Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus betrachtete und folgerichtig die Zerstörung der alten indischen Hochkulturen durch das britische Empire begrüßte, begriffen die Arbeiter instinktiv, daß ihnen die traditionellen bürgerlichen Wertemuster und Strukturen immerhin noch einen gewissen – wenn auch sicherlich nur begrenzten – Schutz geboten hatten und stoppten unsere "Bewegung" ohne viel Federlesens an den Fabriktoren.

Weil das Bürgertum aber recht schnell und feige den Schwanz einkniff, anstatt mit der Arbeiterklasse ein Bündnis gegen die Achtundsechziger und ihre Epigonen einzugehen und es sich außerdem verbat, daß das staatliche Gewaltmonopol gegen seine eigenen Söhne und Töchter wirksam ein- und durchgesetzt wurde, konnte sich die Dynamik dieses exemplarischen Klassenkampfes von oben relativ ungestört entfalten. Nach der Lektüre von Herbert Marcuses "Kritik der reinen Toleranz" – dem absoluten Kultbuch eines durch und durch vulgarisierten Neo-Marxismus – und hier besonders des Kapitels über die "Repressive Toleranz" fühlte man sich ohnehin zu jedweden Amokläufen berechtigt. Hinzu kam die Weigerung, die Widersprüche zwischen der Katastrophenrhetorik des SDS und dessen noch bedeutend gruseligeren Nachfolgeorganisationen und einer im Vergleich zu Dritte-Welt-Ländern immerhin doch recht gemütlichen Realität hierzulande überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen.

"1968" nahm jedoch bereits im Verlauf des folgenden politisch-historischen Prozesses all jenes vorweg, was wir heute völlig zu Recht beklagen: die totale Massengesellschaft, die Omnipotenz der Medien, die Zerstörung lang gewachsener kultureller Traditionen, den Prozeß der Nivellierung, der alles Authentische und Besondere vernichtet und nur noch die Ideologie des Konsums zuläßt, und eine ins Wahnsinnige gesteigerte Unterhaltungs- und Comedy-Industrie. Der kulturelle Vernichtungsprozeß und Identitätsverlust der siebziger Jahre geht seither unaufhaltsam und mit ungeheurer Breitenwirkung auf allen Ebenen weiter.

Freilich waren die bürgerlichen Werte auch vorher schon nicht mehr stark genug, um hier eine Gegenmacht zu bilden. Wer mochte sich damals noch an den Hochschulen dem randalierenden Mob mit den Worten "Die Autorität weicht nicht zurück!" entgegenzustellen, wie der sozialdemokratische Professor Carlo Schmid? Wer hatte schon den Mut, den gewaltverherrlichenden Fanatismus von SDS und APO als eine Rückkehr zum Konformitätszwang, zur Gefolgschaftstreue und zum Mitläufertum des Nationalsozialismus zu bezeichnen, wie der christdemokratische Frankfurter Bürgermeister Wilhelm Fay?

Nachdem die Bewegung und ihr Mythos endlich die Stelle der Realität eingenommen hatten, die Realitätsprüfung aber beharrlich verweigert wurde, nahm eine bislang ungeahnte Form von Massenhysterie ihren Lauf, die man bislang nur von religiösen Sekten zu kennen glaubte. Und in der Tat waren Gruppierungen wie die nach der Auflösung des SDS entstandenen ML-Parteien im Grunde nichts anderes als eine politisch verblendete und äußerst perfide Mischung aus "Scientology" und "Hells Angels", mit all den bekannten psychopathologischen Strukturen wie Gehirnwäsche, der Verherrlichung schlimmsten Revolutionskitsches und einer geradezu abscheulich langweiligen, verkrampften und dürftigen "Diskussionskultur". Dümmer war Dummheit nie als in diesen stalinistischen Wehrsportgrüppchen, in denen eine versubproletarisierte Jung-Bourgeoisie, die noch dazu voller Stolz auf ihr politisches und kulturelles Analphabetentum war, die nationalsozialistisch-kommunistischen Straßenkämpfe der zwanziger und frühen dreißiger Jahre imitierte, während die sich verkleinbürgerlichende Arbeiterklasse längst im Ford Taunus unterwegs nach Spanien war, der Sonne entgegen.

Liest man heute die Rechtfertigungs- oder Erklärungsversuche der führenden Aktivisten von einst – und es lohnt sich, sie genau zu lesen – dann stockt einem bisweilen der Atem. Kein Wort der Scham, der Entschuldigung oder des Bedauerns. Es ist immer noch der intellektuelle linke Stammtisch, der hier spricht: ungebrochen, ungebeugt, unbelehrbar. Manchmal etwas weniger deutlich wie bei Gerd Koenen, KD Wolff oder Christian Semler, manchmal etwas mehr wie bei Joseph Fischer oder Joscha Schmierer. Radical chic wie gehabt und die Ansichten sind weitgehend immer noch Ableitungen aus den alten und falschen Weltbildern der späten sechziger und frühen siebziger Jahre.

Daß die Bundesrepublik damals noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen und von einer Bundeskanzlerin Ulrike Meinhof, einem Justizminister Joscha Schmierer, einem Propagandaminister Jürgen Trittin und einer Umwidmung zur "Westdeutschen Räterepublik" verschont geblieben ist, mag für manchen ein kleiner Trost sein, ist aber noch längst kein Grund zur Freude. In der Regierung Schröder/Fischer wird schließlich die Vollendung von ’68 sichtbar: die Erfüllung des Typus der linken Demokratie, ohne Persönlichkeit, aufrechtes Mittelmaß, jederzeit auswechselbar. Sehr viel mehr ist von ’68 nicht geblieben. Aber solange die strammen Interessen der internationalen Global Players mit den konstitutionell wackligen der deutschen Linken einigermaßen identisch sind, dürfen wir uns noch auf einiges gefaßt machen.

 

Werner Olles, 58, war 1968/69 Mitglied im Frankfurter SDS, danach engagierte er sich in Splittergruppen der "Neuen Linken".


 
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