© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Ein schlechtes Gewissen
Der Kosovo-Krieg als Folge westlicher Beschwichtigungspolitik
Carl Gustaf Ströhm

Um in der Nato-Diktion zu sprechen: Es gehört zu den "Kollateralschäden" zeitgenössischer journalistischer Tätigkeit auf dem Balkan, daß ein WDR-Fernsehfilm mit dem reißerischen Titel "Es begann mit einer Lüge ..." selber mit "Lügen" oder Halbwahrheiten gepflastert war. Den deutschen Fernsehzuschauern wurde auf diese Weise ein höchst einseitiges Bild über die Lage im Kosovo vermittelt.

Es soll hier nicht die Frage behandelt werden, ob die bewaffnete Intervention der Nato gegen "Jugoslawien" (sprich: Serbien) völkerrechtlich korrekt und angemessen war. Viel eher scheint es angebracht, die Situation aus dem Blickwinkel jenes Volkes zu zeigen, das nicht erst seit einigen Jahren das eigentliche Opfer auf diesem heißen Balkan-Pflaster ist. Es geht um die Kosovo-Albaner. Anhand einiger Zeugenaussagen und willkürlicher Filmausschnitte so zu tun, als seien im Kosovo die dort lebenden Albaner die eigentlichen Schuldigen und die Serben die harmlosen Opfer – wie es im genannten WDR-Film geschieht –, stellt, was immer Minister Scharping gesagt oder getan haben mag, eine grobe Verfälschung der Tatsachen dar.

Die von den USA eingeleiteten Luftanschläge gegen Jugoslawien waren nicht zuletzt Folge des schlechten Gewissens der westlichen Öffentlichkeit und Politik, die seit 1990 tatenlos zugesehen hatte, wie die jugoslawische Armee gemeinsam mit paramilitärischen serbischen Verbänden über die "abtrünnigen" Nachbarvölker herfiel. Unprovoziert begannen die Serben im Herbst 1991 den Krieg gegen Kroatien, wobei die Stadt Vukovar völlig zerstört wurde und über zweitausend Menschen – meist Zivilisten – ermordet und in Massengräbern verscharrt, weitere Hunderttausende aus ihren Häusern vertrieben wurden. Bei der Belagerung und Beschießung von Dubrovnik – der Perle der Adria mit ihren unschätzbaren Kulturgütern – schaute der Westen gleichmütig zu, obwohl ein einziger US-Zerstörer dem blutigen Spuk in wenigen Stunden ein Ende bereitet hätte.

Auch als Bosnien seit Frühjahr 1992 in einer Blutorgie unterging und das Fernsehen täglich schauerliche Bilder von der Beschießung Sarajevos durch die Serben in die Wohnzimmer transportierte; geschah nichts. Erst als die Uno-Schutzzone Srebrenica in die Hände der serbischen Eroberer fiel und mehr als siebentausend moslemische Männer unter den Augen niederländischer Uno-Truppen von den serbischen Eroberern abgeschlachtet wurden, wendete sich das Blatt.

Nachdem die Serben mit ihren Eroberungsplänen überall gescheitert waren, wandte sich Milosevic wieder verstärkt dem Kosovo zu. Hier hatte 1989 bei der Sechshundertjahrfeier der mythischen Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) alles angefangen. Die Kosovo-Albaner wußten nun endgültig, daß sie im serbisch beherrschten Jugoslawien nichts zu lachen hatten. Milosevic hatte bereits vorher mit der Aufhebung der Autonomie des Kosovo und einer beispiellosen Kampagne gegen die Albaner, die angeblich reihenweise serbische Frauen und Mädchen vergewaltigt hatten (Beweise dafür blieb man bis heute schuldig), die Stimmung angeheizt. Das serbische Ziel war seit langem klar: Die albanische Mehrheit sollte zur Flucht oder Auswanderung veranlaßt werden. Die Albaner galten wegen ihrer höheren Geburtenfreudigkeit als besonders gefährlich. Bereits kurz nach dem Tode Titos 1980 kam es zu ersten schweren Zusammenstößen zwischen serbischen Sicherheitskräften und meist jungen Kosovo-Albanern.

Seither haben sich Terror und Druck der serbisch-jugoslawischen Staatsmacht gegen die verhaßte albanische Bevölkerung noch verstärkt. Die albanischsprachige Universität in Pristina wurde geschlossen, albanische Zeitungen verboten, albanische Ärzte, Beamte und Lehrer massenweise entlassen. Der Unterricht in albanischer Sprache wurde abgeschafft. Die Kosovo-Albaner halfen sich mit einer Art Untergrund- und Parallelstruktur. Kinder wurden in Privathäusern in ihrer Muttersprache unterrichtet.

Die heutige verfahrene Situation ist eine Folge jahrelanger westlicher Beschwichtigungspolitik gegenüber den Belgrader Machthabern. So wurde der gemäßigte nationale Politiker Ibrahim Rugova von den Amerikanern überredet, eine Politik des gewaltlosen Widerstandes à la Gandhi zu führen. Das Ergebnis war – eine weitere Verschärfung des serbischen Drucks. Weil die vom Westen forcierte gemäßigte Optionen nichts brachte, entstand aus jungen Leuten die "Kosovo-Befreiungsarmee" UÇK. Ihre Anhänger meinen, daß letztlich Gewalt dem Westen mehr imponiert als schöne Worte. Kann man ihnen widersprechen angesichts aller Erfahrungen von Nordirland und Palästina?

Bevor man den Stab über die Albaner bricht – dieses angebliche "Mafia-Volk" von Schwarzhändlern und Schmugg- lern –, muß man doch kritisch fragen: Wer hat beizeiten einen Finger gerührt, um die von allen Seiten geprügelten und unterdrückten Albaner eines Besseren zu belehren? Wer von den Deutschen weiß überhaupt, daß die Kosovo-Albaner stets als besonders deutsch-freundlich galten? Viele deutsche Familien wären am Ende des Zweiten Weltkrieges ohne Väter und Söhne geblieben, wenn nicht die Kosovo-Albaner den Rückzug der Wehrmacht Ende 1944 gedeckt hätten.


 
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