© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
CD: Pop
Völlig normal
Holger Stürenburg

In den letzten Jahren wurde die deutsche Vorentscheidung für den Grand Prix Eurovision de la Chanson zunehmend zu einer Parodie auf die einst gediegene Veranstaltung. Für den diesjährigen Wettbewerb hat sich zumindest das neue Berliner Label Berlin Records entschieden, Qualität statt Quantität nach Hannover zu entsenden. Die vierköpfige Münchner Band Tag-träumer garantiert den unspektakulärsten Beitrag. Neben all den Möchtegernsängern und Hampelmännern wird am heutigen Freitag eine normale, völlig alltägliche Popband ihren Auftritt absolvieren. Gitarre, Baß, Schlagzeug, Keyboard und Gesang. Endlich!

Romantische Popklänge mit Rockeinflüssen, nach dem Vorbild amerikanischer Songwriter, beeinflußt von traditionellen deutschen Popbands wie Münchner Freiheit oder Purple Schulz. Kein Rhythmuscomputer, keine Grungeakkorde auf der Gitarre, kein Baß aus dem Synthesizer. Texte aus dem Leben, keine vulgären Worte, keine politischen Belehrungen, keine pseudoliterarische Aufarbeitung der "Spaß-Gesellschaft. Endlich!

Die vier Tagträumer haben bereits vielfältige Erfahrungen im Popbereich sammeln können. Sänger Andy Jonas, übrigens der Enkel von "Caprifischer" Rudi Schuricke, schrieb bereits Hits für Gil oder Soap-Star Judith. Außerdem trug seine Gesangstimme zum Erfolg des Enigma-Titels "Return to Innocence" bei. Auch die drei anderen, alle Anfang bis Mitte 30, haben bereits in anderen Bands gespielt und beherrschen ihre Instrumente aus dem Effeff. Seit langem wünschte sich Andy Jonas, eine deutschsprachige Platte zu produzieren; denn er möchte mit seinen Texten verstanden werden und etwas aussagen. Dies ist ihm nun gelungen. Neben dem Vorentscheidungstitel "Träumen & hoffen" wird kurz nach der Hannoveraner Veranstaltung das Debüt-Album "Zuviel ist nicht genug" bei Berlin/Sony erscheinen.

Und mit den 14 Tracks dieses Albums ist der neuen Band tatsächlich ein großer Wurf gelungen. Die Songs leben von Natürlichkeit, Intensität und werden alle von einer starken romantischen Komponente beherrscht. Zwar sind die Texte meist im zwischenmenschlichen Bereich angesiedelt und nur selten als wahre lyrische Meisterwerke zu bezeichnen, aber in Verbindung mit der gitarrenbetonten Popmusik gewinnt Lyrik à la "Für immer", "Freunde" oder "Du bist wieder da" enorm an Ausstrahlung und Kraft. Mit einer schnellen, rockigen Version von "Dein ist mein ganzes Herz" verbeugen sich die Tagträumer vor Deutschrocker Heinz Rudolf Kunze; eine bluesige Fassung gibt es von Rudi Schurickes "Glaube mir" – ebenfalls eine Verbeugung, aber auch ein Duett mit Andys Großvater Rudi: Dessen legendäre Stimme ist gekonnt neben die seines Enkels gesampelt worden. Melodiöse Songs wie "Stern", "Zuviel ist nicht genug" oder "Verliebt" lassen hoffen, daß Tagträumer dem guten alten deutschen Pop, der in den letzten Jahren aus Hitparaden, Medien und Feuilletons ziemlich verschwunden war, eine grandiose Rückkehr bescheren. Zwar erkennt man in einigen Liedern auch den schlechten Einfluß der Betroffenheitspopper Pur, aber hier gottlob nur musikalisch; auf wütende Zeigefingertexte verzichtet die Band vollständig.

Im Radio werden Tagträumer sicherlich bald Dauergäste sein, wenn auch nur in speziellen Schlagersendern, weil es deutscher Pop im Radio ohnehin sehr schwer hat. Zeitgeisterfahrer werden Tagträumer nicht in ihr Herz schließen können, dazu ist die Band einfach zu normal! Aber genau darin liegt eine enorme Chance für Tagträumer. Wenn es auch bei der Vorentscheidung zum Grand Prix nicht klappen dürfte, so besteht durchaus die Aussicht, daß sich die Band auf gänzlich konventionellem Wege etabliert. Mit Qualität und Ausdruck, mit interessanten Melodien und gut verträglichen Arrangements.


 
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