© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Zwischen Hölderlin und Hannes Heer
Unveraltete Memoiren: Der Germanist Benno von Wiese über den Niedergang der deutschen Universität, militante 68er und feige Bürger
Jutta Winckler

Im Jahr 1982 legte der Germanist Benno von Wiese unter dem Titel "Ich erzähle mein Leben" seine Autobiographie vor. Binnen kurzem waren vier Auflagen dieser auf 350 Seiten gerafften Prosa verkauft. Und auch gelesen, denn Wieses Opus ist spannend wie ein Krimi. Und verdient es, generationenübergreifend wahrgenommen zu werden. Denn hier spricht ein kritischer Zeitzeuge. Ein Gelehrter, der weiß, wie sehr, um mit Karl Immermann zu sprechen, die "Zeit ihren Durchzug durch mich hielt": "Dieses Buch handelt nicht nur von der deutschen Universität und dem Fach Germanistik; es handelt von allem, was mir begegnet ist und mir wichtig war. Das Werk will kein Gemälde des 20. Jahrhunderts sein. Nur das habe ich erzählt, was Bestandteil meiner eigenen Lebens- und Bildungsgeschichte geworden ist. Insofern erzähle ich als ein Zeitgenosse meiner selbst."

Wiese mochte seine Epoche nicht. Vor die Wahl gestellt, hätte er ihr das 19. oder lieber noch das 18. Jahrhundert vorgezogen, als eine Zeit, die noch nicht von "brutalen Masseninstinkten und mörderischen Wildheiten" erfüllt gewesen waren. In der Goethe-Stadt Frankfurt 1903 geboren, gehörte er eigentlich dem "schlesischen Uradel" an und hieß mit vollem Namen Freiherr Benno von Wiese und Kaiserswaldau. Sein Vater Leopold hatte die militärische Laufbahn verlassen und wurde zum Begründer der wissenschaftlichen Soziologie in Deutschland. Bennos Kindheit und Jugend spielte sich im liberalen Milieu einer protestantischen Großbürgerfamilie in Lindenthal ab, dem Kölner Nobelviertel. Geistig wuchs er im Fluidum des revolutionären Expressionismus auf, seine "Gier nach Büchern war so groß, daß ich anfing, Bücher aus Buchläden zu stehlen".

Wiese studiert in Leipzig Philosophie, Rechts- und Kunstgeschichte, Germanistik bei Driesch, Pinder, las Bergson, Scheler, Dilthey, aber auch Stirner und Nietzsche. Die Spätblüte der Heidelberger Alma Mater in den Zwanzigern brachte ihm Begegnungen mit Jaspers, Rickert, Mannheim, Alfred Weber, Ludwig und Ernst Robert Curtius, Gundolf und der "klügsten Frau meines Lebens: Hannah Arendt", mit der ihn das Ehepaar Jaspers gerne "verkuppelt" hätte. Nach der Promotion wechselt er 1928 nach Berlin, damals zweifellos der kulturelle Mittelpunkt der Welt, habilitierte sich im Folgejahr in Bonn unter dem Patronat Oskar Walzels. Der fand als Greis im Dezember 1944 ein entsetzliches Ende, als er während eines angloamerikanischen Terrorbombardements auf die Zivilbevölkerung des rheinischen Städtchens in seinem Bett verbrannte.

Die folgende Erlanger Professur ließ sich nur um den Preis des opportunistischen Eintritts in die NSDAP bewahren; die universitäre Bücherverbrennung, die studentischen Wehrsportgruppen, die ideologische Militanz jener Zeit waren dem literarischen Ästheten zuwider. 1943 erhielt Wiese seine Heeres-Einberufung nach Eger, 1944 die Freistellung für einen Münsteraner Lehrstuhl. Dort trat ihm die – laut Weizsäcker und Kohl – durch Sherman und T 34 wiedergewonnene Freiheit entgegen: In Gestalt "baumlanger englischer Besatzungssoldaten, die mich ohne Grund nachts auf menschenleerer Straße überfielen und verprügelten. Hilferufe nützten da nichts".

Ende 1957 war der zum Primas seiner Disziplin Avancierte gleichsam nach Bonn zurückgekehrt; auch dort pflegte er die in Erlangen begründete Freundschaft zu dem Pädagogen Hans Wenke, den Düsseldorf Mitte der sechziger Jahre zum Gründungsrektor der Universität Bochum berufen hatte. Der noch in Hamburg als Schulsenator Tätige wurde ein erstes Opfer jener massiven Anfeindungen, die erstmals Studenten-Revoluzzer und ihre medialen Schallverstärker in Szene setzten. Die bis in unsere Tage perfektionierte Tribunalisierung biographischer "Vergangenheit" konnte erstmals ihre zerstörerische Wirkung entfalten: der Attackierte ging nicht an die Ruhr, sondern erlag in der Folge einem Herzinfarkt.

Ab 1967 zählten Fakten nicht mehr, Stimmungsmache, Boykotthetze, persönliche Diffamierung, physische Bedrohung durften sich breitmachen. Der West-Staat zeigte sich zutiefst verunsichert. Das "antifaschistische" Gift breitete sich epidemisch aus. Bis heute dauert seine verderbliche Wirkung an.

Die Attacken auf Freund Wenke waren Gesprächsgegenstand, als Germanisten-Kollege Richard Alewyn sich zu Beginn des Jahres 1967 frühestmöglich hatte emeritieren lassen. Aus seiner Abschiedvorlesung erinnert Wiese die zynische Wendung: "Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Ich bin eine Ratte!" Selbst der relativ gemäßigte Studentenspuk der Bonner Universität war dem renommierten Gelehrten widerwärtig gewesen; umgehend verließ er die ehedem vornehme Hohenzollern-Gründung und nahm Wohnsitz in München. Nicht nur das Fach Germanistik, die ganze deutsche Universität war damals in die schwerste Krise ihrer Existenz geraten. Ihre Substanz war und ist bis heute stärker bedroht, als selbst die braunen Jakobiner es vermocht hatten.

Bewegte Zeiten unter dem Regime der NS-Bewegung

Mit drei Assistenten und zwei Hilfskräften war Wiese ein Bonner "Großordinarius", der "naturgemäß" (Thomas Bernhard) ins 68er-Visier geriet.Die Sozialdemokratie schob Massen in die Universität: Wiese erlebte "das Verhängnis der Verschulung des Studiums" und Eingriffe des parteipolitisch durchpolitisierten Ministeralbürokratismus. In jenen Zeiten "geriet nicht nur die Germanistik, sondern die ganze deutsche Universität in eine Krise.Diese hat ihre Spuren hinterlassen, und die deutsche Universität ist ein ganz anderes Gebilde geworden, als sie es seit ihrer Gründung durch Wilhelm von Humboldt gewesen ist."

Der 68er Spuk begann für Wiese mit den "tumultösen Vorgängen anläßlich der Wahl von Hugo Moser zum Rektor der Universität Bonn." Gegen diesen verdienten Altgermanisten hatte Walter Boehlich, ein an den akademischen Qualitätsmaßstäben des Romanisten Ernst Robert Curtius gescheiterter Journalist, in der Hamburger Zeit jene NS-Diffamierungskeule geschwungen, die seit nunmehr dreißig Jahren als probates Mittel funktioniert, unliebsame Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen. Eine Reihe ähnlich deutsch, allzudeutsch gerufmordeter Dozenten hatte resigniert und sich zurückgezogen.

Nicht so Hugo Moser! Die Angriffe gegen den Erforscher des Nibelungenliedes weiteten sich zur Kampagne gegen die gesamte Bonner Universität.Das Rauschen des Blätterwaldes führte dazu, daß "die Atmosphäre alsbald politisiert und vergiftet war". Der Senat der Universität sprach Moser sein volles Vertrauen aus. Als Reaktion traten jüngere Bewerber auf den Plan, es kam zur "Erklärung der Sieben", zu denen Karl O. Conrady, Eberhard Lämmert und Peter Wapnewski zählten, die mit links üblichem Pathos moralischer Selbstgerechtigkeit für "deutsche Selbstreinigung" eintraten.

Diese im Unterschied zur berühmten "Göttinger Sieben", die 1837 Kopf und Kragen riskierten (und ihre Ämter verloren), um den König des Verfassungsbruches zu zeihen, risikolose Erklärung verband sich mit einer Kampagne, in der es um Thomas Manns Bonner Ehrendoktorat ging. 1936 wurde es ihm aberkannt, und der große Prosaist und kleine Mensch aus Lübeck verdiente sich dieses Verdikt nachmals redlich, indem er der allierten Greuelpropaganda gegen das Deutsche Reich willfährig zur Verfügung gestanden hat. Die Medien erweckten den Eindruck, als sei Moser, obschon er zum nämlichen Zeitpunkt nicht zur Bonner Universität gehörte, damals "mitschuldig" geworden. Im Gegenteil: Moser, ein liberaler Katholik, hatte, wie so viele vor und nach ihm, unter einer massiven Beschädigung seines wissenschaftlich-moralischen Ansehens im In- und Ausland zu leiden.

Details aus der "Kampfzeit" von Hannes Heer

Wiese beobachtete, wie "mehr und mehr zeitgeistig angekränkelte Germanisten selbst zu Journalisten wurden, um sich an den Kämpfen gegen ihr Fach zu beteiligen". Das Studium der deutschen Sprache und Kultur wurde als solches unter "Faschismusverdacht" gestellt. Teufelsaustreibungen begannen. Persönliche und berufliche Rivalitäten bekamen ein volkspädagogisches Mäntelchen umgehängt. Selbst Erforscher Hauffscher Kunstmärchen sahen sich als "Wegbereiter der Katastrophen der Hitlerzeit" diffamiert. Germanistik als "betont nationale Identitätswissenschaft" habe schon seit ihren Anfängen unter den Gebrüdern Grimm "Kurs auf Auschwitz" genommen. Planstellenvermehrung und wissenschaftsgeschichtliche "Aufarbeitung" liefen auf die 68er Generation zu. Auf Germanistentagen bestimmte die 68er-Fronde die Agenda: Nationalismus, Irrationalismus, Faschismus, Formalismus – gegen alles und jedes richtete man die Waffe marxistischer Ideologiekritik: bloß das eigene Jakobinertum blieb "naturgemäß" verschont.

Die Lektüre just bürgerlicher Großblätter jener Tage führt, mit wenigen tapferen Ausnahmen, vor Augen, daß Opportunismus und Feigheit, damals wie heute, als zentrale Charaktereigenschaften deutscher Bewußtseinsverfertiger gelten müssen: Sie haben Hitler nicht verhindert und RTL Zwei ermöglicht. Sie und ihr 68er-Vortrupp vermeinen stets "historisch-moralisch" zu argumentieren, und dennoch trifft von Wieses Vorwurf "politisierender Geschichtslosigkeit" auf niemanden mehr zu. Damals begann auf Kongressen und Sitzungen jenes Pfeifen und Scharren, das Türenknallen und Hinausrennen, das Anbrüllen und Aussperren, wie es den Älteren aus den Agonietagen Weimars unangenehm erinnerlich war. Auch vor emigrierten Hochschullehrern machte das nicht halt, sofern sie nur im Ruch des "Rechten", des "Konservativen" standen. "Rotlackierte Faschisten" (Kurt Schumacher) tobten durch die Seminare. Unter ihnen erwähnt Wiese einen gewissen Hannes Heer.

Als Wiese im Sommer 1969 von einer USA-Reise zurückkehrte, stand er in seinem Oberseminar "allein gegen nahezu alle". Wie üblich lud er seine Schüler zu geselliger Runde ein, doch sollten Gewalttäter ausgeschlossen bleiben: "Alle wußten, daß dieser Appell nur an einen Studenten gerichtet war, Hannes Heer, der an der ganzen Universität als Apo-Rabauke verschrieen war. Er stand auf dem linkesten Flügel, war ein fanatischer und intoleranter Ideologe." Wie weit würde man sich mit dem "Intriganten und Bösewicht" solidarisieren? Wiese dazu: "Heer selbst erleichterte es seinen Kameraden, da er seine Untaten zugab, die für ihn Heldentaten waren. Er trat von der Einladung zurück und verzichtete. Die Bonner Historiker lehnten es ab, sich mit ’kriminellen Subjekten‘ wie Hannes Heer auch nur an einen Tisch zu setzen. Sie nahmen es mir übel, daß ich ihn sogar als Doktoranden zugelassen hatte. Allerdings knüpfte ich die Bedingung daran, daß er auf Gewalttaten gegen das deutsche Seminar und auf öffentliche Diffamierungen verzichten solle." Trotzdem wurde Wieses Seminar "von seiner Apo-Gruppe besetzt, in Mao-Tse-Tung-Institut umgetauft und mit tendenziösen Sprüchen beschmiert. Heer hat übrigens nicht bei mir promoviert. Er zog es vor, zur sogenannten Reformuniversität Bremen zu wechseln".

Resümierend geht Wiese auf die Feigheit, fast realitätsblinde Dummheit der bürgerlichen Meinungsmacher ein: Seiner Auffassung nach steuerte alle "Reform" auf eine Entmachtung der planmäßigen Professorenschaft hin. Der vor und nach dem 68er Intermezzo parteipolitisch um so leichter manipulierbare Mittel- und Unterbau wurde massiv aufgewertet, der Unterschied zwischen Lehrenden und Lernenden eingeebnet. "Als 1968 das Marburger Manifest erschien und von 1.300 Ordinarien unterschrieben wurde, in dem vor den Schäden gewarnt wurde, die durch simple Übertragung parlamentarischer Verfahren auf die hierarchische Struktur der Hochschule entstehen mußten, brandtmarkte die Presse die Professoren als regressiv und konservativ." Die Gleichmacherei trieb skurrile Blüten: "Herr Professor", so ein Student zu Wiese, "wir geben ja zu, daß Sie viel wissen. Aber Wissen ist Macht, und Macht bekämpfen wir." Rhetorisch mutet heute die Frage an, gleichsam aus dem Germanistenjenseits, ob "solchem Schwachsinn die Verantwortung für den Aufbau der Universität" hätte anvertraut werden dürfen; der heutige Zustand spricht eine deutliche Sprache und verweist abermals auf die Feigheit und Lethargie bürgerlicher Kreise.


 
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