© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Angeblich nur ein Mythos: Nemmersdorf
Ostsee-Akademie: In Travemünde trafen sich Deutsche, Polen, Litauer und Russen zum Gespräch über Ostpreußen im Dritten Reich
Uwe Praysen

Der Andrang zur Tagung über "Ostpreußen im Dritten Reich" übertraf die Erwartungen der im Travemünder Pommern-Zentrum residierenden Ostsee-Akademie bei weitem. Rund 150 Teilnehmer aus Deutschland, Polen, Rußland und Litauen widmeten sich dem zeitgeschichtlich bislang vernachlässigten Thema. Das Auditorium erhielt Einblick in neuere Forschungen über den Aufstieg der ostpreußischen NSDAP, den Werdegang des erst 1986 in polnischer Haft verstorbenen Gauleiters Erich Koch, den politischen Umbruch an der Albertus-Universität, das Schicksal Königsberger Juden und die "Grenzkampf"-Lage im Memelgebiet. Das größte Interesse fanden jedoch erwartungsgemäß die Vorträge von Martin Bergau und Bernhard Fisch. Bergau (Heimsheim), der als 17jähriger HJ-Angehöriger Ende Januar 1945 Augenzeuge eines Massakers an 5.000 jüdischen Häftlingen im samländischen Palmnicken wurde, erzählte bewegt und bewegend über dieses Erlebnis, das ihn in seiner inzwischen sogar von der New York Times rezipierten Veröffentlichung ("Der Junge vom Bernsteinstrand") wie in seinem Vortrag freilich zu mitunter arg moralisierenden Verengungen verleitete. Die resultieren aber vielleicht auch aus Verletzungen und Verbitterungen, die Bergau in seiner Auseinandersetzung mit seinen ostpreußischen Landsleuten davontrug. Denn ebenso interessant wie seine ganz aus dem traditionellen Rahmen fallende "Heimatgeschichte" waren Bergaus Auskünfte über die sich gegen seine Erlebnisberichte abschottenden Reaktionen in der Landsmannschaft Ostpreußen und im Ostpreußenblatt, wo man sich mit der Thematik höchst ungern befaßt haben soll.

Ähnliche Erfahrungen machte Bernhard Fisch (Stadtroda), der sich quellenkritisch mit dem "Mythos Nemmersdorf" auseinandersetzte. Bei Fisch zeigte sich allerdings auch die ganze Problematik solcher eigenem Verständnis nach "kritischen" zeitgeschichtlichen Aufarbeitung. Fisch, zu DDR-Zeiten ein Promotor "deutsch-sowjetischer Freundschaft" in Jena, mußte sich nicht nur von deutschen Diskutanten vorhalten lassen, die Rote Armee "weißzuwaschen". Mit Verve griff ausgerechnet die Moskauer Professorin Swetlana Tscherwonnaja den Referenten an, der nicht selten in den eingeschliffenen Duktus zurückfiel, etwa wenn er davon sprach, daß "sowjetische Forscher" die Kriegs- und Nachkriegsereignisse in Ostpreußen wohl noch heller ausleuchten müßten. Die erzürnte Frau Tscherwonnaja wollte darauf nicht warten und hielt sich in Travemünde vorerst an Fisch selbst, dem sie die unappetitliche Apologie einer Armee vorwarf, die nicht nur in dieser deutschen Ostprovinz einen undenkbaren "Zivilisationsbruch" zu verantworten habe. Die resolute Professorin, die es dem Referenten besonders übel nahm, Ilja Ehrenburgs Funktion als Stalins Kriegspropagandist zu verniedlichen, verglich Fischs Vorgehen sogar mit den aktuellen Praktiken der Putin-Administration, die die völkermörderischen Interventionen im Kaukasus vor der Weltöffentlichkeit verharmlosend als kleinere Polizeiaktionen ausgebe.

Obwohl Fisch mehrfach betonte, daß er die von der Sowjetarmee in Ostpreußen begangenen Verbrechen, die Massenmorde und Vergewaltigungen, auf keinen Fall leugnen oder relativieren wolle, konnte er sich, gemessen an seinen methodischen Prämissen, vom Verdacht des prosowjetischen Apologetentums nur schwer befreien. Zumal er auch nicht zu vermitteln wußte, welche historiographischen Konsequenzen die vom ihm aufgespürten und zu Recht der etablierten Forschung angekreideten, aber im Kontext des Gesamtgeschehens doch eher marginalen "Ungenauigkeiten" in Sachen Nemmersdorf denn haben könnten. Müßte deswegen die Geschichte von Krieg, Flucht und Vertreibung im Osten nun umgeschrieben werden? Soweit würde auch Fisch wohl nicht gehen wollen.

Weniger ostentativ als dieser deutsche Referent, aber doch so markant, daß sich Frau Tscherwonnaja, kräftig unterstützt durch den litauischen Historiker Martynas Purvinas, wieder zu einem prodeutschen Koreferat herausgefordert fühlte, präsentierte Arune Arbusauskaite (Memel/Klaipeda) ihre Version von der "NS-Politik gegenüber den Litauern im Memelgebiet". Auch bei ihr wurden – wie ihre eigenen Landsleute höflich zurückhaltend formulierten – offenbar langlebige "sowjetische" Prägungen evident. Ausufernd schilderte sie den partiell von Verfolgung und Ausgrenzung geprägten Alltag memelländischer Litauer nach der Rückkehr des Landes in den Reichsverband im März 1939, ohne mit einem Wort auf die Repression einzugehen, der die deutsche Einwohner des Landes nach der völkerrechtswidrigen Annektion durch Litauen seit 1923 ausgesetzt waren.

Wenn solcher Art sich die Meinungen hart im Raume treffen, signalisiert dies jedoch nur, daß in Travemünde das lebendige Gespräch über ein Thema begonnen hat, das so lange von so vielen, geleitet von denkbar gegensätzlichsten Interessen, dem Vergessen überantwortet werden sollte.


 
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