© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Unvergleichlich
Karl Heinzen

Wer sich von bloßen Verfolgungsziffern beeindrucken läßt und meint, die Bundesrepublik von heute mit der DDR von einst vergleichen zu müssen, handelt nicht nur inkonsequent, weil er glaubt, dies ungestraft tun zu dürfen, sondern vor allem leichtfertig. Die DDR war so atavistisch, sich dazu zu bekennen, daß sie die in ihrem Innern latent bestehenden Unterschiede individueller Interessen und Meinungen nicht nur moderieren wollte. Zudem ging sie bloß so weit, wie es die sowjetische Führungsmacht und vor allem der Ost-West-Konflikt zuließen. Die Bundesrepublik hat hingegen, eingebunden in die Völkergemeinschaft alter Demokratien und geziert durch die hübscheste "Verfassung" der deutschen Geschichte, alle Freiheit: Nur in ihr ist es somit sinnvoll, davon zu sprechen, daß Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit auseinanderfallen.

Die Verfolgung politisch Andersdenkender in der DDR war willkürlich, weil man aus totalitärer Verblendung einen sehr engen Begriff von der Wahrheit hatte und diese gegen alle anderen durchsetzen wollte. In der Bundesrepublik sind Repressalien transparent und unprätentiös, weil man sich, unter anderem durch die Anwendung rechtsstaatlicher Methoden, auf die Unterdrückung erwiesener Fehlanschauungen beschränkt. Wer darüber die Nase rümpft, handelt respektlos gegenüber der erfolgreichen Tradition, die unser Gemeinwesen begründen konnte, und verantwortungslos gegenüber den Gefahren, die unserer jungen Demokratie so kurz nach dem Ende eines Jahrhunderts der grausamen Heimsuchungen drohen könnten. Man sollte daher auch nichts schön zu reden versuchen: Es spricht gegen unsere Gesellschaft, daß aus ihrer Mitte heraus soviel Anlaß zu Verfolgung geboten wird, viel mehr als es in der auch gar nicht einmal so schlecht überwachten DDR notwendig gewesen zu sein scheint. Es ist nicht angebracht, die Verfol-gungsstatistik durch das Abziehen sogenannter Propagandadelikte kaputtzurechnen. Wer Straftaten als Meinungsäußerungen verharmlost, fällt den sonst doch so schwer unter einen Hut zu bringenden Gewalten unseres Gemeinwesens in den Rücken. Und überhaupt hat es Propagandadelikte natürlich auch in der DDR gegeben. Daß sie dort weitaus seltener vorkamen, bringt lediglich zum Ausdruck, daß unser Gemeinwesen dem Einzelnen weder vorschreiben kann noch will, was er zu denken und zu tun hat. Wo mehr Freiheit ist, ist eben auch mehr Freiheitsmißbrauch – und erst hier ist der Staat gehalten, korrigierend einzugreifen.

DDR und Bundesrepublik sind nicht zu vergleichen, weil sie unterschiedliche historische Entwicklungsstufen repräsentieren. In der DDR war die Aufhebung des Staates noch eine Utopie, in der Bundesrepublik steht sie längst auf der Tagesordnung. In der DDR glaubte man, daß die staatliche Organisation der Verfolgung ausreichend ist. In der Bundesrepublik weiß man, daß eine breite gesellschaftliche Mitwirkung hier unerläßlich ist.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen