© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001

 
Kalte Dusche für Brüssel
Schweiz: 76,7 Prozent der Eidgenossen stimmten gegen einen EU-Beitritt / Bundesrat bleibt trotzdem auf Europakurs
Philip Plickert

Deutlicher hätte die Abfuhr der Schweizer für die Initiative "Ja zu Europa" nicht sein können: 76,7 Prozent der Wähler stimmten bei der Volksabstimmung am 4. März bei hoher Wahlbeteiligung mit Nein. Alle 26 Kantone zeigten einem EU-Beitritt die kalte Schulter. Die Front der EU-Gegner führte der Kanton Appenzell mit 93,2 Prozent Nein-Stimmen an, aber auch die traditionell EU-freundlichere Westschweiz wollte von sofortigen Beitrittsverhandlungen nichts wissen. Selbst in der mit internationalen Institutionen reichlich gesegneten Stadt Genf blieben die Beitrittswilligen mit 41,1 gegen 58,9 Prozent deutlich in der Minderheit. Noch bei der Abstimmung um den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 zeigte sich die Alpenfestung gespalten in eine beitrittsfreundliche romanische Schweiz und eine isolationistische deutsche Schweiz. Von einem derartigen "Röstigraben" der Zwietracht konnte diesmal keine Rede sein.

Die Berner Zeitung Der Bund sprach von einem "Fiasko", die Basler Zeitung von einer "massiven Schlappe" für die Europa-Initiative. Die Anhänger der Sozialisten (SPS) und Grünen, welche für die EU-Initiative geworben hatten, blieben daheim, und die Ja-Empfehlung der linkschristlichen Volkspartei (CVP) war durch zahlreiche Abweichler aus den eigenen Reihen entwertet worden. Dagegen hatten sich die rechtsliberalen Freisinnigen (FDP) im Verein mit der Wirtschaft gegen einen überhasteten Beitritt ausgesprochen, obwohl sie eigentlich pro-europäisch eingestellt sind. Einzig die rechtskonservative Schweizer Volkspartei (SVP) zeigte ungetrübte Freude über das negative Votum. Der Wortführer der kompromißlosen Nein-Fraktion, der Industrielle Christoph Blocher, war "äußerst erfreut" und meinte, die Schweizer hätten gemerkt, daß sie bei einem Beitritt an Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand verlieren würden.

Der Bundesrat, die Schweizer Regierung, hält ungeachtet dessen an seinem "strategischen Ziel" einer EU-Mitgliedschaft fest. Seit 1992 verstaubt in Brüsseler Amtsstuben ein seinerzeit etwas voreilig eingebrachtes Beitrittsgesuch der Regierung. Die Berner Bundesräte sind EU-freundlich eingestellt, nur dürfen sie es nicht zu offen sagen und haben deshalb aus taktischen Erwägungen den Wählern ein Nein empfohlen. Am Wahlabend versuchte Bundespräsident Leunberger (Sozialdemokrat) das Wahlergebnis zu interpretieren: Die deutliche Ablehnung von "Ja zu Europa" sei nicht als Nein zu einem EU-Beitritt zu verstehen, vielmehr wollten die Bürger noch abwarten. Die Mehrheit der Kommentatoren hält diese Interpretation für verfehlt und erkennt statt dessen einen klaren Sieg der EU-Gegner. Blochers SVP konnte bei einigen zeitgleich abgehaltenen Kantonalwahlen massive Zuwächse verbuchen. Im Mittelschweizer Aargau etwa bauten die Rechtskonservativen ihre Vormachtstellung auf über 33 Prozent aus.

Die Neue Zürcher Zeitung kommentiert, Blochers Truppe sei politisch einfach "in". Er gewinne bei den Jungen wie bei den Alten, bei Männern wie bei Frauen. Der Aufstieg der ehemals bäuerlich geprägten SVP zur stärksten politischen Kraft begann Anfang der achtziger Jahre mit dem Auftauchen des aus einfachen Verhältnissen stammenden "Selfmademan" Blocher auf der politischen Bühne. Einige Medien sahen Ähnlichkeiten mit Jörg Haider. Trotz einer durchgehend negativen Presse – laut einer Universitätsstudie stehen nur ein Prozent der Journalisten der SVP nahe, zwischen 40 und 60 Prozent dagegen den Sozialisten – gelang es Blocher, seine Partei in der Wählergunst von knapp 10 Prozent auf 22,5 Prozent bei den letzten Wahlen zu führen. Anfangs gingen die SVP-Gewinne zu Lasten rechter Splitterparteien, doch in den letzten Jahren konnte sie massiv ins großbürgerliche Lager einbrechen, so daß für die nächsten bundesweiten Wahlen mit weiteren Zuwächsen zu rechnen ist.

Seit 1959 setzt sich die Schweizer Regierung gemäß der sogenannten Zauberformel 2–2–2–1 nach einem festen Proporz zusammen: Die Freisinnigen (FDP) haben Anspruch auf zwei Minister, die Christdemokraten (CVP) zwei und die Sozialdemokraten (SPS) ebenfalls zwei. Und für die SVP bleibt ein einziger, obwohl sie wählerstärkste Partei ist. Meist hoben die anderen Parteien im Parlament dann noch einen Blocher-Gegner vom linksliberalen Berner SVP-Flügel auf den Ministersessel. Alle Versuche, diesen faulen Zauber zu beenden, schlugen bislang fehl. Somit bleibt den Rechtskonservativen als einzige Waffe die direkte Demokratie.

An der Spitze der "Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz" (AUNS) verhinderte Blocher im Jahr 1992 fast im Alleingang den EWR-Beitritt. Seitdem entwickelte sich die AUNS zur mächtigsten Plattform der Isolationisten. Es ist unbestritten, daß die Schweiz bei einem EU-Beitritt von Anfang an als Nettozahler finanziell bluten müßte. Auch müßten die Subventionen für die alpenländische Landwirtschaft nach EU-Recht stark verringert werden. Eine weitere schmerzliche Konsequenz des EU-Beitritt wäre die Gefährdung des Bankgeheimnisses – daher auch die deutliche Ablehnung der Europa-Initiative in der Schweizer Bankenmetropole Genf.

Prinzipiell fürchtet das freiheitsliebende Schweizer Volk, seine Unabhängigkeit in einer von Eurokraten zentralistisch verwalteten EU zu verlieren. Besonders die Sanktionen gegen Österreich nach der Bildung der schwarz-blauen Koalition im Jahr 2000 ließen den Brüsseler "Moloch" (Blocher) suspekt erscheinen. Der SVP-Parlamentarier und Chefredakteur der Wochenzeitung Schweizerzeit, Ulrich Schlüer, sprach von einer neuen "Inquisition" und bemerkte: "Wie zu der Zeit, da Kreml-Boß Leonid Breschnew seine sozialistischen Brüder mittels Breschnew-Doktrin von der ’beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten‘ disziplinierte. Recht bleibt auf der Strecke, Willkür dominiert. Wer sich Brüssel nicht vorbehaltlos unterwirft, wird zum Anti-Demokraten gestempelt."

Zum Ausgang der jüngsten Volksabstimmung hieß es gönnerhaft aus der EU-Kommission, man "akzeptiere den Willen der Schweizer Bürger". Aber diese hätten "nicht Nein zu Europa gesagt", sondern wollten die Frage erst noch überdenken. Der Bundesrat will das Beitrittsgesuch in der nächsten Legislaturperiode von 2003 bis 2007 erneut prüfen und dem Volk eventuell noch einmal zur Abstimmung vorlegen. 76,6 Prozent Ablehnung waren offenbar noch nicht deutlich genug.


 
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