© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001

 
Alkohol und Plattenbauten
Schlesien: Die oberschlesische Gegenwart ist auch ein Jahrzehnt nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft trist
Adrian Sobek

Das oberschlesische Industrierevier ist in vieler Hinsicht einmalig. Das ganze Revier, das erst im 19. Jahrhundert durch Unternehmer – in Oberschlesien Magnaten genannt – wie Karl Godulla, Familie Henkel-Donnersmark oder Ballerstrem richtig erschlossen wurde, erstreckt sich von West nach Ost auf nur 30 Kilometer und umfaßt insgesamt nur etwa tausend Quadratkilometer. Das Saarland ist fast dreimal so groß. Auf dieser Fläche sind 13 Städte konzentriert, davon sieben mit mehr als 100.000 Einwohnern: darunter Gleiwitz (Gliwice), Beuthen (Bytom) und Königshütte (Chorzów), die nach 1945 der Woiwodschaft Kattowitz (Katowice) unterstellt wurden. Die Provinzhauptstadt Kattowitz selbst kam schon 1922 zur damaligen Republik Polen. Insgesamt leben im oberschlesischen Revier rund drei Millionen Menschen, was in etwa bedeutet, daß auf zwei Prozent der Fläche Polens etwa acht Prozent der Einwohner wohnen.

Enorm sind auch die auf dieser kleinen Fläche vorhanden Bodenschätze; etwa 100 Milliarden Tonnen Kohle, ungefähr 100 Millionen Tonnen verschiedener Erze. Noch vor zehn Jahren bestand die verarbeitende Industrie aus fast 5.000 Betrieben der Schwer- und Chemieindustrie, unter ihnen 18 Eisen- und Stahlhütten, sieben Buntmetallhütten, 50 Großkraftwerke, 30 chemische Großbetriebe, 80 Fabriken des Maschinenbaus und 65 Bergwerke.

In den letzten Jahren wurden die größten Dreckschleudern geschlossen – was auch dringend notwendig war, denn die Filterleistung erreichte nur 2,5 Prozent des Ausstoßes, die Staubniederschläge lagen in der Größenordnung von 400 bis 1.000 Tonnen pro Quadratkilometer und Jahr. Hinzu kam es bedingt durch den Raubbergbau zu massiven Oberflächensenkungen, was dazu führte, daß die Innenstadt von Beuthen sowie deren Vororte Karf und Miechowitz zusammenfielen und abgerissen werden mußten.

Die Schließung der Betriebe führt nun zu einer enorm hohen Arbeitslosigkeit. Wohl hat die EU Gelder zur Verfügung gestellt, um die schlimmsten ökologischen Schäden zu lindern; jedoch hat auch das ferne Warschau Anspruch auf einen Teil dieser Mittel erhoben, um eine Kläranlage zu bauen. Die Berg- und Stahlarbeiter, zu Zeiten des Sozialismus mit Geld und Sachleistungen verwöhnt, stehen durch die Arbeitslosigkeit vor dem finanziellen Ruin.

Fährt der Reisende durch das oberschlesische Industriegebiet, so traut er seinen Augen nicht. Neben einem Konglomerat von bereits stillgelegten und noch produzierenden Industriebetrieben und gewaltigen Plattenbaubesiedlungen aus der kommunistischen Zeit gibt es eine Vielzahl von Bergarbeiterhäusern – in Oberschlesien Familoki genannt – aus der Zeit der Jahrhundertwende.

Diese Häuser, die häufig auch noch den Standard der damaligen Zeit die Toiletten auf den Etagen oder auf dem Hof, kein Bad und Kohleheizung haben, fallen zusehends auseinander oder verwandeln sich in Slums, was nach Jahrzehnten ohne Pflege nun ganz natürlich ist.

Dem Besucher offenbart sich die ganze Trostlosigkeit der Lage: Blasse, kränklich aussehende Kinder spielen in der Nähe der Mülltonnen, und ihre Eltern ertränken ihre hoffnungslose Lage in Alkohol. Kein Wunder, daß das Gebiet die niedrigste Lebenserwartung in Europa hat. Die nach dem Krieg ins Industriegebiet strömenden Polen bekamen eine moderne Wohnung in den aus dem Boden gestampften Plattenbausiedlungen zugewiesen, in die Familoki wurde nicht investiert, denn dort wohnten einheimische Schlesier. Doch nun wollen die einzelnen Städte an die Sanierung der Siedlungen gehen, was nicht einfach ist, da die Sanierung eines Haus etwa 1,4 Millionen Zloty (700.000 Mark) kostet.

Viele dieser Häuser, die unter Denkmalschutz stehen, sind seit Jahre unbewohnt. Durch Mieterhöhung kann dieser Betrag nicht aufgebracht werden, nun sollen die Familoki in Appartements umgewandelt werden. Als Beispiel wird ein bereits saniertes Viertel in Kattowitz genannt. Die Hauswände wurden gereinigt, neue Wasserleitungen gelegt, Badezimmer eingerichtet, die Wohnungen verfügen dann über 100 Quadratmeter Wohnfläche. Jedoch konnten nicht alle Häuser so renoviert werden, über 70 mußten schon abgerissen werden. Um die Wohnqualität zu heben, planen die Stadtväter von Ruda, in der Nähe einer Siedlung mit dem Namen "Kaufhaus" auf einer ehemaligen Mülldeponie einen Golfplatz einzurichten. Wenn auch diese Idee ein wenig skurril anmutet, so bezeugt sie doch Phantasie, die nötig ist, um diese Probleme, die durch den Strukturwandel im Industriegebiet entstanden sind, zu bewältigen.

In der westlich gelegenen Woiwodschaft Oppeln, wo die deutsche Volksgruppe rund 30 Prozent der Einwohner stellt, liegen die Dinge anders. Hier wollen alle im Westen arbeiten.

Zur Zeit sind über 70.000 Einwohner der Woiwodschaft Oppeln in der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden, wo sie etwa das sechsfache eines polnischen Lehrergehalts verdienen. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um Bauarbeiter, Maler, Schweißer, Werkzeugmacher. Die mit großer Euphorie Anfang der neunziger Jahre eröffneten Deutschklassen werden nicht besucht, denn für das Lernen haben die jungen Oberschlesier keine Zeit: Sie wollen in Deutschland arbeiten, um ein Haus zu bauen und ein schönes Auto zu fahren – alles verständliche Wünsche.

Sicherlich hat der Einwand Berechtigung, daß zur Zeit der kommunistischen Herrschaft Deutsche von höherer Ausbildung ausgeschlossen waren, jedoch sollte auch berücksichtigt werden, daß seit dieser Zeit zehn Jahre vergangen sind. Zu groß sind jedoch die Versuchungen, im Westen zu arbeiten. In den Zeitungen gibt es spaltenlange Arbeitsangebote für Leute mit einem deutschen Paß. Die Nachteile der langen Abwesenheit liegen auf der Hand: Ehe- und Familienkrisen, die Männer, die in Arbeiterhotels unter sich wohnen, trinken häufig Alkohol. Problematisch ist auch, daß diese Menschen die Arbeit in Deutschland in den seltensten Fällen dazu nutzen, um ihre deutschen Sprachkenntnisse zu verbessern. Wozu auch? Man ist unter sich, spricht das gewohnte "Oberschlesisch", die Anweisungen des Vorgesetzten versteht man auch so, und bei Aldi benötigt man Sprachkenntnisse ohnehin nicht.

Es mehren sich Stimmen, die darauf hinweisen, daß die Konjunktur für die Arbeit im Westen nur noch bis zum Eintritt Polens in die EU andauern könnte. Im Oppelner Schlesien, dem Hauptsiedlungsgebiet der Deutschen, könnte dann eine Szenario entstehen, daß auf dem Arbeitsmarkt eine große Anzahl unqualifizierter Bauarbeiter gegeneinander antritt.

Es muß ein Umdenken in den Köpfen der betroffenen Oberschlesier stattfinden, was jedoch leichter gesagt als getan ist, da niemand auf Prestige und schönes Haus verzichten wird. Am wichtigsten jedoch ist, daß der Aufenthalt in Deutschland dazu genutzt wird, um die Sprachkenntnisse zu verbessern. Alle Möglichkeiten dazu haben die Betroffenen selbst in ihren Händen. Ein deutscher Paß macht zwar juristisch aus einer Person einen Deutschen, aber erst die Sprache führt zur kulturellen Bindung mit den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen.


 
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