© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
Zwiespältige Erweiterung
Hohe Kosten und Druck auf den Arbeitsmarkt – Kein Bundesstaat EU
Philip Plickert

Mit dem Vertrag von Nizza sei die Erweiterung der EU um die mittel- und osteuropäischen Staaten auf eine solide Basis gestellt worden – das versichert die EU-Kommission. Hoffnung auf schnelle Aufnahme in den EU-Club machen sich Estland, Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern. Befürworter eines schnellen Beitritts schwärmen von einem zukünftigen Binnenmarkt mit einer halben Milliarde Konsumenten und den sich daraus ergebenden Absatzchancen gerade für die deutsche Wirtschaft. Deutschland sei der eigentliche Gewinner, heißt es vor allem aus Kreisen der Großindustrie. Die zaghaft vorgetragenen Bedenken des Mittelstandes und des Handwerks gehen zumeist unter.

Hinter der optimistischen Fassade ist jedoch selbst bei der EU-Kommission beginnende Unsicherheit zu erkennen. Der überraschende Vorstoß des für die Erweiterung zuständigen EU-Kommissars Verheugen (SPD) im Herbst vergangenen Jahres, über die Osterweiterung doch das Volk abstimmen zu lassen, war vielfach als Hilferuf verstanden worden. Kaum glaubhaft sind die Versprechen der EU-Kommission: Ohne zusätzliche Mittel möchte sie die Erweiterung finanzieren, und gleichzeitig sollen die Leistungen für die bisherigen Mitglieder nicht verringert werden. Das Brüsseler Agrarsubventionswesen verschlingt mit etwa 50 Milliarden Euro die Hälfte des jährlichen EU-Haushalts. In einigen osteuropäischen Ländern sind über 20 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt. Muß diese sich unvermittelt dem EU-Wettbewerb stellen, dann sehen Fachleute ohne EU-Beihilfen eine mittlere Katastrophe heraufziehen. Und wer zahlt mal wieder?

Verheugen behauptet allen Ernstes, das Mammut-Projekt der EU-Osterweiterung berge "kein Finanzrisiko". Es sei in bezug auf die finanzielle Belastung mit der deutschen Wiedervereinigung nicht vergleichbar. Bis 2006 veranschlagt die Kommission Kosten von rund 80 Milliarden Euro (noch vor einem Jahr wurden 45 Milliarden Euro als Obergrenze genannt!), danach sollen die neuen Mitglieder aus den Struktur- und Kohäsionsfonds voll bedient werden. Mit Ausnahme der Hauptstädte wie Prag oder Budapest erfüllen sämtliche Regionen der Kandidatenländer die Voraussetzung für eine Ziel-Eins-Förderung, also die höchste Förderungsstufe, weil ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Kopf weit weniger als 75 Prozent des EU-Durchschnitts beträgt. Über die tatsächliche Armut, etwa in Polen, darf man sich keine Illusionen machen: Ein Drittel der polnischen Regionen weist laut Eurostat nur ein BIP pro Kopf von 25 Prozent des EU-Durchschnitts auf. Und Verheugen spricht dennoch von "keinerlei zusätzlichem Finanzierungsbedarf"?

In den letzten Wochen konzentrierte sich die Diskussion vor allem auf die Frage der Freizügigkeit von Arbeitnehmern, also die Öffnung der Arbeitsmärkte. Nirgendwo auf der Welt, außer an der Grenze der USA zu Mexiko, gibt es ein derart krasses Wohlstandsgefälle wie an der Ostgrenze der EU. Grenznahe Gebiete haben deshalb Sorge, von billigen Arbeitskräften überschwemmt zu werden. "Ein sehr schwieriges Problem" nennt Verheugen diese möglichen Belastungen für den Arbeitsmarkt.

Schon heute leben nach Schätzungen der EU etwa 300.000 Osteuropäer legal, weitere 800.000 illegal in der EU, davon über 70 Prozent in Deutschland und Österreich. Bei einem Beitritt Estlands, Polens, Ungarns, der Tschechei und Sloweniens ist nach EU-Schätzugungen mit dem Zuzug weiterer 150.000 Arbeitnehmer jährlich zu rechnen, nach zehn Jahren werde diese Zahl auf 65.000 zurückgehen. Erst kürzlich haben Vertreter der Wirtschaftsverbände BDA und BDI klargemacht, daß sie sich über den Zustrom billiger und möglichst noch gut ausgebildeter Arbeitskräfte freuen. Der Zentralverband des Handwerks (ZDH) berichtet dagegen von Ängsten der kleinen Betriebe. Getrieben von den Gewerkschaften macht sich nun auch Kanzler Schröder für Übergangsfristen von sieben Jahren am Arbeitsmarkt stark.

Die Überwindung der Teilung Europas ist ein historisches Projekt. Verheugen hat recht, daß es nicht mit der Wiedervereinigung zu vergleichen ist – in seiner Dimension geht es weit darüber hinaus. Brandgefährlich wäre es, die Erweiterung durch ein übereiltes Vorgehen nur ungenügend vorzubereiten, und damit das ganze Projekt zu gefährden. Das genaue Datum der Beitritte gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der EU. Allen Prognosen der EU zum Finanzierungsbedarf liegt die völlig unrealistische Annahme eines Beitritts im Jahr 2002 zugrunde, doch nach Verheugens eigener Aussage ist derzeit keines der Kandidatenländer reif dafür.

Was in Nizza verschoben wurde – die Neuordnung von Kompetenzen und ihre Rückgabe an die Nationalstaaten und Regionen gemäß dem Prinzip der Subsidiarität –, wird durch die Erweiterung auf bis zu 27 Mitglieder unumgänglich. An der inneren Vielfalt und Verschiedenartigkeit der erweiterten EU muß die Utopie eines europäischen Bundesstaates zerschellen. Je größer und heterogener die Union wird, desto sicherer werden Brüsseler Normierungsfanatiker scheitern. Die osteuropäischen Staaten werden nicht gewillt sein, sich einer neuen "Moskauer Zentrale" zu unterwerfen, die Anhänger eines "Europas der Vaterländer" bekommen Verbündete. So gesehen kann man der EU-Erweiterung auch eine gute Seite abgewinnen.


 
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