© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
"Eine herzlose Gesellschaft"
Norbert Walter, Chef-Volkswirt der Deutschen Bank, über die Konjunkturflaute, die Finanzkrise und das Evangelium

Herr Professor Walter, ernstzunehmende Wirtschaftsinstitute gehen von einem stärker als bisher angenommenen Konjunkturrückgang aus. Sind angesichts dieser Entwicklung die ehrgeizigen Arbeitsmarkt-Ziele der Bundesregierung realistisch?

Walter: Für die meisten scheint das, was sich derzeit anbahnt, eher eine überraschende Absenkung des konjunkturellen Niveaus als eine wirkliche Veränderung der grundsätzlichen Entwicklung zu sein. Es wird also sicherlich einige ungünstige Arbeitsmarktdaten geben, aber wohl nur für einen vorübergehenden Zeitraum. Wenn die Zahlen stimmen, die das statistische Bundesamt vorgelegt hat – was ich nicht glaube –,dann wird es in diesem Jahr um die zwei Prozent Wachstum geben. Das dürfte dann nur zu einem kleinen Anstieg der Beschäftigtenzahlen führen. Da aber aufgrund der demographischen Entwicklung Zugänge zum Arbeitsmarkt knapp werden, kann sich durchaus ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen im Jahre 2001 ergeben. Ich glaube nicht, daß der statistische Fehler der offiziellen Zahlen bis zum Beginn des nächsten Jahres korrigiert sein wird, so daß man damit weiter kalkulieren muß. Die Dynamik wird kleiner sein als im Jahr 2001. Ich gehe aber davon aus, daß wir in Sachen Arbeitslosigkeit die Ergebnisse, die für das Jahr 2002 anvisiert sind – etwa 3,5 Millionen – erreichen können.

Das heißt, die Bundesregierung liegt nicht so falsch?

Walter: In bezug auf diese Variable liegt die Bundesregierung aus heutiger Perspektive nicht falsch.

Dennoch sind die Pläne der Bundesregierung ganz offensichtlich nicht wie gewünscht aufgegangen?

Walter: Es gibt ein Bündel von Ursachen, die zu diesem Umstand geführt haben. Erstens sind die Ausnahmen bei der Ökosteuer günstiger, als diejenigen, die davon begünstigt sind, einräumen. Zweitens sieht es ganz so aus, als ob die Maßnahmen der Bundesregierung etwa bezüglich der Scheinselbständigkeit oder das 630-Mark-Gesetz zu einem Schub von Schwarzarbeit geführt haben. Stunden werden nicht aufgeschrieben, Rechnungen nicht ausgestellt. Die Folge sind verminderte Steuereinnahmen. Hinzu kommt die etwas schwächere Konjunktur, die ebenfalls zu einer Steuereinnahmenminderung führt und andererseits zu höheren Ausgaben für Arbeitslose. Wir werden also 2001 ein leicht höheres Defizit haben. Dieses zyklische Defizit ist Teil des automatischen Stabilisators und deshalb kein Grund zu Reaktionen.

Was waren die Hauptfehler in den letzten zehn Jahren, nicht nur dieser Regierung, sondern der deutschen Politik?

Walter: Die alte Regierung hatte ja bereits ein kleines Rentenreförmchen auf den Weg gebracht. Das aber die Kampagne von Herrn Lafontaine als Bösartigkeit diffamierte und das deshalb durch eine Neuregelung zurückgenommen werden mußte. Mit dem Ergebnis, daß dann ein Notprogramm zur Rentensicherung folgen mußte und anschließendder jetzige Versuch einer neuen Rentenreform. Diesen Umweg hätten wir uns sparen können. Hätten wir die Blüm-Vorschläge behalten, dann hätten wir eine vernünftige Basis für den Einstieg in die kapitalgedeckte Vorsorge gehabt. Auch die Steuerreformdebatte ist vormals durch die rot-grünen Oppositionsparteien blockiert worden. Nun hat man eine in vielen Punkten vernünftige Steuerreform auf den Weg gebracht, aber die Entlastungen von Leistungsträgern in der Arbeitnehmerschaft, also der neuen Mitte, im wesentlichen auf das Jahr 2005 vertagt. Ich weiß, daß der Finanzminister ein vorsichtiger Mensch ist. Er möchte kein Geld ausgeben, das er noch nicht eingenommen hat, und deshalb redet er, wenn auch weniger als seine Vorgänger, über Gegenfinanzierung. Den Mut, durch Steuersenkung dieses Land zu revitalisieren, hat aber auch er nicht. Was seit dem Wechsel der Regierung gar nicht angepackt wurde, ist die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Hier ist jetzt sogar – durch den Einfluß der Gewerkschaften – der Bundeskanzler angesichts der Wahlen im nächsten Jahr geneigt, den kollektivistischen Rückwärtsgang einzulegen, ich meine das Betriebsverfassungsgesetz. Dieses belastet vor allem jene Unternehmen, auf die es in besonderem Masse bei der Entstehung von Beschäftigung ankommt, nämlich die Kleinunternehmen.

Bundeskanzler Schröder erweckt oft den Eindruck, als taktiere er in diesen Fragen nur?

Walter: Manche Leute meinen auch, für eine Mitte-Links-Regierung berücksichtige er in enormen Maße langfristige Interessen und wirtschaftliche Einsichten. Daß er dazu in einer Republik von Motivverdächtigern manchmal taktieren muß, ist ein politisch sachgerechter Instinkt. Daß Intellektuelle das nicht gut finden – daß ich das nicht gut finde –, ist unser Privatvergnügen. Vielleicht sollte man Politik weniger nach ihren Motiven als nach ihren Ergebnissen beurteilen. Ich jedenfalls kann jemanden, der in einem konsensbedürftigen Umfeld wie der bundesdeutschen Gesellschaft taktiert, nicht guten Gewissens dafür schelten.

Das erscheint einsichtig, ist aber äußerst unbefriedigend.

Walter: Natürlich, mir reicht das auch nicht. Aber was mich besonders wundert ist, daß es so vielen junge Menschen reicht. Daß die nicht dagegen aufbegehren. Ich bin mittlerweile 56, und da wird man milder, aber wenn ich 18 wäre, würde ich das nicht hinnehmen.

Das ist der Pragmatismus der "Neuen-Mitte"-Generation, die sich abgefunden hat.

Walter: Nein, ich glaube, die sind alle taub geworden – von dem Lärm in der Disco!

Trifft die These Bruno Bandulets zu, die Siebziger stünden wieder vor der Tür?

Walter: Ich bin zu alt, um mich bei jeder Konjunkturdelle von Strukturängsten plagen zu lassen. Nichts ist so zyklisch wie die Strukturkrisen. Sicherlich ist das, was wir jetzt haben, ein besonderer konjunktureller Abschwung, aber es ist eben nur der übliche Abschwung. Das "himmelhoch jauchzen, zu Tode betrübt" stellt sich ein, wenn man keine Perspektive hat. Was sich jetzt vollzieht, wird keine Weltwirtschaftskrise werden, und es ist erst recht nicht die Wiederholung der Siebziger. Wir sind heute viel offener für Internationalität als damals. Die Einsicht, daß staatliche Gängelung nicht zum Menschenglück führt, ist heute akzeptiert, und wir haben heute Mitte-Links-Regierungen, die den Staat wieder zurückdrängen, und das mit Zustimmung ihrer Wählerschaft. Wir haben den ideologischen Ballast der sechziger und siebziger Jahre abgeworfen und deshalb fürchte ich auch nicht, daß eine Renaissance des Interventionismus ins Haus steht.

Droht uns nun eine Erhöhung der Mehrwertsteuer?

Walter: Ich weiß nicht, was bei dieser nun wieder aufgekommenen Diskussion herauskommen wird. Die Mehrwertsteuer wäre bei einer wirklichen Justierung der Einkommensteuer und bei einem Scheitern der Ökosteuer die verbleibende variable Einnahmequelle des Staates, von dem wir uns doch alle die Erledigung gewisser Aufgaben, wie etwa Verteidigung oder den Bau von Schulen und Straßen wünschen. Die Haltung, keine Steuern zahlen zu wollen, aber staatliche Leistungen zu empfangen, ist doch unerwachsen.

Weil es aber so ein naheliegendes Instrument ist, haben wir Bürger natürlich die Angst, daß die Politiker phantasielos immer zuerst dazu greifen.

Walter: Die Sorge ist natürlich berechtigt. Die Alternative wäre, daß der Staat gewisse Leistungen delegiert und nur noch die hoheitliche Aufsicht behält. Das wäre mir persönlich in vielen Bereichen auch sympathischer. Aber wir reden über die nächsten zwei bis drei Jahre, und wer da die Einkommensteuer 2005 oder früher senken und die Ökosteuer 2003 nicht weiter erhöhen will, der soll bitte sagen, wie er staatliche Leistungen finanzieren will.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk haben Sie sich aber doch selbst für eine umweltorientiertere Ökosteuer ausgesprochen. Nun wollen Sie doch vor allem den Haushalt damit finanzieren?

Walter: Diese Lenkungssteuer sollten wir – solange wir keine Emissionszertifikate haben – beibehalten, um die Umwelt zu schonen. Der Ertrag der Steuer sollte aber für staatspolitische Zwecke verwendet werden. Die Lenkung ist wichtig, weil sie das einzige Instrument ist, um die Menschen zu ökologischem Verhalten anzuhalten. Diesen Effekt erreichen wir aber nicht, wenn wir die Erträge etwa in Windkraftwerke stecken. Ich hätte lieber, daß die Märkte herausfinden, was die richtigen Alternativen zur bisherigen Energiewirtschaft sind. Denn gewährte Subventionen sind zum einen schwer wieder abbaubar, zum anderen werden die Empfänger von dem Druck befreit, Produktivitätssteigerungen zu erzielen. Es ist aber wichtig, daß die natürlichen Anreize der Märkte erhalten bleiben, gerade wenn es wirtschaftliche Fortschritte auf dem gewünschten Gebiet geben soll. Jetzt von Subventionen bei der Atomkraft auf Subventionen bei der Windkraft umzusteigen, halte ich für falsch.

Sie wollen die Förderung Aufbau Ost 2004 auslaufen lassen. Was dann?

Walter: Wir sollten die Solidarität endlich als Bestandteil unseres Systems begreifen. Es sollten einfach allgemeine Kriterien eingeführt werden, nach denen jemand Anspruch auf Förderung hat. Das hat mit "Bedürftigkeit" zu tun, aber nicht mit dem geographischen Standort. Die neuen Bundesländer würden vermutlich auch den größeren Teil der Hilfen erhalten, aber nicht als "neue Bundesländer", sondern nach konkretem Bedarf. Wenn das alte Ost-Fördersystem beibehalten wird, entstehen weiterhin Häuser in Neubrandenburg für Leute mit Gehältern wie in Düsseldorf. Das ist nicht angemessen.

Die Euro-Einführung steht bevor. Wie werden sich die Kosten für die Umstellung bei Bankkunden und Verbrauchern niederschlagen?

Walter: Es regt mich furchtbar auf, wenn die Leute nur über die Kosten einer Neuerung reden. Wir führen eine neue Währung ein, und das auch noch für immer. Natürlich gibt es da Kosten, aber die sind einmalig, und es ist eben ein ambitioniertes Projekt. Außerdem werden da auch Titel mit auf die Kosten geschlagen, die bei Beibehaltung der D-Mark genauso entstanden wären. Auch für die Mark haben wir schon einmal neue Druckplatten anschaffen müssen. Allerdings schäme ich mich in der Tat für meine Zunft bezüglich der Debatte um Umtauschgebühren. Ich finde es unwürdig, daß Banken nun auf die Idee kommen, die Kosten für den Tausch auf die Kunden abzuwälzen. Wir sind Dienstleister.

In unserer jugendorientierten Gesellschaft haben ältere Menschen allein aufgrund dessen, daß sie älter sind, oft keine Chance mehr am Arbeitsmarkt. Bedarf es da nicht einer Einmischung der Politik?

Walter: Nein, da bedarf es der Einsicht der Gesellschaft, das heißt bei jedem Einzelnen. Ältere Menschen müssen begreifen, daß sie sich nicht auf Erreichtem ausruhen dürfen, sondern daß auch sie den ständig neuen Qualifikationsanforderungen gerecht werden müssen. Sie müssen einsehen, daß sie im Alter eventuell nicht mehr so geeignet sind und deshalb ihr Einkommen auch wieder sinken kann. Die Vorstellung, daß der Lohn automatisch immer steigt, kann eben heute nicht mehr gelten. Auf der anderen Seite muß ich Unternehmern, die das Erfahrungswissen und die Kontakte, die Ältere haben, ignorieren, schiere Dummheit vorwerfen.

Haben wir also das Optimum der gerechten Gesellschaft bereits erreicht und bauen schon wieder ab?

Walter: Den Begriff der Gerechtigkeit sollte man lieber nur auf kleiner Stufe verwenden, da wo sich Leute in die Augen schauen können. Ansonsten wird es willkürlich. Es machen sich dann nämlich schnell Gruppen die Vertretung der Benachteiligten zu ihren Gunsten zu eigen. Gerechtigkeit ist ein Konzept, das am besten von Angesicht zu Angesicht funktioniert, wenn zwischen den Menschen Treueverhältnisse bestehen, wenn es Ethik gibt. Das ist auf der Ebene eines Dorfes schon schwer – auf der Ebene eines Nationalstaates ist das unmöglich.

Wenigstens ein Mehr an Ethos war aber in der Vergangenheit auch auf der nationalstaatlichen Ebene schon möglich.

Walter: Wir sind in der Tat eine furchtbare Gesellschaft geworden. Bindungen haben völlig ihren Wert verloren, weil man sich über Staatsleistungen und Ansprüche an die Gesellschaft schadlos halten kann. Es ist eine herzlose Gesellschaft.

Das Wort von der Solidarität, derzeit in aller Politiker Munde, nur schönes Gerede?

Walter: Wie können wir uns solidarisch nennen, wenn wir Kindern noch nicht einmal die Chance geben, ins Leben zu kommen oder wenn wir den Zuzug von Menschen aus dem Ausland staatlich verbieten? Wir haben gar kein Konzept von Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Die dauernden Reden davon sind nur Lippenbekenntnisse.

Welche Bedeutung hat der katholische Glaube für Sie?

Walter: Er ist Teil meines persönlichen Lebens, und ich versuche ihn durch Beispiel vorzuleben. Ich kann ihn aber nicht zur Grundlage meiner Äußerungen zur Gesellschaftsordnung machen. Dazu muß ich mich an den Menschen orientieren, die unsere Gesellschaft tatsächlich ausmachen, das heißt man muß vom Egoismus und der Kurzsichtigkeit der Menschen aus denken.

Sie sind gerade ins "Zentralkomitee der deutschen Katholiken" gewählt worden, was liegt Ihnen besonders am Herzen?

Walter: Ich glaube, daß das ZdK mehr Reformen braucht als der Heilige Stuhl. Das Herzstück der christlichen Orientierung, nämlich der Gottesbezug und das Evangelium, müssen wieder in den Mittelpunkt gestellt werden. Die allzu kollektivistische und umverteilerische Verbesserungsattitüde und der Verlust der Werte, der auch im ZdK offenkundig ist, müssen korrigiert werden. Man sollte dort begreifen, daß ohne Familie Kirche nicht auskommt.

Kirche also weniger als Sozialagentur, sondern verantwortlich für Seele und Glauben der Menschen?

Walter: Das Pastorale muß wieder wichtiger werden sowie die Sorge für den Erhalt der Werte.

Müssen sich die deutschen Katholiken auch wieder um eine größere Nähe zum Papst bemühen?

Walter: Ich bin mit dem Papst auch immer wieder im Unreinen. Die größere Distanz fühle ich aber deutlich gegenüber den libertinären Tendenzen der katholischen Laienbewegung. Da ist die Position des Papstes doch wohl näher an den Wurzeln des Glaubens.

Haben Sie denn mit dieser Sicht überhaupt einen Verbündeten im ZdK?

Walter: Ich bin nicht alleine, aber doch in der verschwindenden Minderheit.

Sie sind auch Mitglied des Deutschherrenordens. Warum?

Walter: Dort werden diese Werte, das unmittelbare Helfen vor Ort, die geistigen Werte und das Wissen um das Spirituelle des echten Glaubens bewahrt und gelehrt. Das tut immer wieder gut.

 

Prof. Dr.Norbert Walter: Wirtschaftswissenschaftler und Chef-Volkswirt der Deutschen Bank. Geboren 1944 in Weckbach/ Unterfranken, studierte er von 1963 bis 1968 Volkswirtschaftslehre an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Von 1968 bis 1971 war er Angestellter am Institut für Kapitalmarktforschung in Frankfurt am Main und von 1971 bis 1986 am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, ab 1978 als Direktor. Seit 1987 bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Seit 1990 Chef-Volkswirt der Deutschen Bank Gruppe und seit 1992 Geschäftsführer Deutsche Bank Research. Walter ist Mitglied der "Sieben Weisen" zur Regulierung der Wertpapiermärkte der EU-Kommis-sion in Brüssel.

 

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