© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
"Amerika ist uns voraus"
Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme über Trittin, die Patriotismus-Debatte und den Wahlkampf in Baden-Württemberg
Moritz Schwarz

Herr Professor von Beyme, der Göttinger Politikprofessor und Parteienexperte Peter Lösche sieht einen Zusammenhang zwischen der jüngst entfachten Patriotismus-Debatte und der Landtagswahl in Baden-Württemberg. Mit der Betonung des Patriotismus versuche die CDU "Stammwähler zu mobilisieren und Wähler von den Republikanern abzuziehen". Eine plausibleThese?

Beyme: Ich glaube nicht, daß die CDU dabei an die Wahlen gedacht hat, aber die Sache war ihr natürlich sehr willkommen, um nun zum Gegenschlag auszuholen. Daß die Angelegenheit auch auf die anstehenden Wahlen Einfluß haben kann, war aber sicher eine Erkenntnis, die sich erst im nachhinein einstellte.

Professor Lösche wertet all diese Aussagen der Union zu den Themen Patriotismus, deutsche Leitkultur und Zuwanderung bereits als Auftakt für den Bundestagswahlkampf 2002.

Beyme: Ich bin gegen Verschwörungstheorien.

Jürgen Trittin hatte die Debatte mit seinem Ausfall gegen CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer ausgelöst. Nun fordert die Union Trit-tins Rücktritt.

Beyme: Wenn Entgleisungen eines Ministers immer sofort zu dessen Rücktritt führen würden, wäre kaum einer länger als zwei Jahre im Amt. Zu überlegen ist, ob man Herrn Trittin nicht einmal ernsthaft ermahnen muß, denn er hat sich schon einiges geleistet. Der jüngste Ausfall ist ja nur der letzte in einer Kette solcher Vorfälle. Man kann dem Kanzler nur empfehlen, mit den Grünen zu verhandeln, ob Trittin denn wirklich der einzige ist, den der Koalitionspartner neben Fischer anbieten kann. Ich wage das zu bezweifeln.

Nun stellt aber die Skinhead-Bezichtigung Trittins die größtmögliche Beleidigung in der bundesdeutschen Gesellschaft dar. Ist das nicht von ganz anderer Qualität als etwa Herbert Wehners Ausfall "Abgeordneter Wohlrabe, Sie sind eine Übelkrähe", der seit einigen Tagen zum Vergleich so gerne zitiert wird?

Beyme: Natürlich war das eine üble Beleidigung. Trittin hat sie zurückgenommen, er hat sich entschuldigt – aber er war nicht sehr zerknirscht, wie die Fernseh-Bilder aus dem Bundestag gezeigt haben. Er erschien mir wie ein feixender Pennäler, den die Lehrerin in die Ecke gestellt hat und der nun augenzwickernd Signale an seine Klassenkameraden gibt. Ich habe sein Verhalten als unwürdig empfunden. Aber man muß akzeptieren, daß die Sache formal nun vom Tisch ist. Kein geringerer als Kurt Schumacher ist gar für drei Wochen vom Bundestag ausgeschlossen worden, weil er Konrad Adenauer einen "Kanzler der Alliierten" genannt hatte. Wehner und Strauß haben unaufhörlich solche Sachen gemacht, dennoch fiel es ihnen im Traum nicht ein, deswegen zurückzutreten.

Laurenz Meyer ist "stolz darauf, ein Deutscher zu sein". In anderen europäischen Ländern ist das selbstverständlicher Teil des republikanischen Staatsverständnisses.Welche Bedeutung hat nationale Identität für den tradierten europäischen republikanischen Staat?

Beyme: Das ist ganz unterschiedlich. Einige Nationen haben damit kein Probleme, wie etwa England und Frankreich, denn sie leben schon seit Jahrhunderten in etwa in den gleichen Grenzen. Und sie haben ihr Modell im Laufe der Geschichte ausgearbeitet. Deutschland hatte es da schwieriger, weil seine Grenzen fließend waren und wir uns erst durch zwei Kriege gesundschrumpfen mußten. Mittlerweile ist unumstritten, was nun tatsächlich dazugehört und was nicht: Wir haben akzeptiert, daß etwa Österreich kein Bestandteil ist. Und übrigens: auch Österreich hat das akzeptiert, was ja 1918 noch nicht der Fall gewesen ist. Endlich haben wir also ein abgestecktes Areal. Das bedeutet aber nicht, daß wir innerlich die gleiche Festigkeit eines fraglosen Patritismus haben wie andere Länder. Das spiegelt sich etwa im Euro-Barometer wieder, wo die Deutschen in Sachen Nationalstolz an letzter Stelle stehen. Sogar hinter den Belgiern – und das, obwohl die Frage ist, ob Belgien überhaupt noch ein Nationalstaat ist. Man wagt es in Deutschland eben meist nicht, sich zur Nation zu bekennen. Allerdings, sobald es unpolitisch scheint, reagieren auch die Deutschen ganz seltsam nationalistisch: Ich erlebe das zum Beispiel, wenn ich – obwohl ich ein altmodischer Patriot bin – bei einem Fußballspiel aus politischen Gründen wünsche, daß wir verlieren. Dann wollen mich ausgerechnet jene beinahe lynchen, die gestern noch "Null Bock" auf Deutschland hatten: Sogar solche Leute werden fast hysterisch, sobald die gegnerische Mannschaft in den deutschen Strafraum kommt.

Sie wünschen Deutschlands Niederlage?

Beyme: Manchmal, etwa bei der Weltmeisterschaft 1990. Das war die Situation, als wir im Verdacht standen, neue Großmacht zu werden – und dann auch noch der Fußballweltmeistertitel?

Was meinen Sie mit "altmodischer Patriot"?

Beyme: Altmodisch, weil ich damit nie ein Problem hatte. Ich wurde als Deutscher geboren und habe es ohne Bauchschmerzen akzeptiert. Meine Studenten belächeln mich manchmal dafür.

Bundespräsident Johannes Rau hat mit seiner These, "froh" oder "dankbar" aber nicht "stolz" Deutscher zu sein, die Diskussion um das Nationalbewußtsein noch weiter angeheizt. CSU-Generalsekretär Thomas Goppel stellt nun die Frage, ob Rau "mit dieser Einstellung die Bürger dieses Landes angemessen vertreten" könne.

Beyme: Der Bundespräsident darf ja nicht politisch entscheiden, sondern nur reden und überzeugen. Ein guter Bundespräsident sagt immer auch einmal schreckliche Sachen. Das hat Gustav Heinemann so gemacht, das hat Richard von Weizsäcker und das hat Roman Herzog gemacht. Der Präsident darf also durchaus so etwas sagen, und ich selbst halte Raus Ansicht im übrigen in dieser Frage für völlig respektabel: Es ist kein Verdienst, Deutscher zu sein. Man wird da hineingeboren. Ich persönlich akzeptiere es, aber ich könnte theoretisch genauso Franzose sein.

Diese Diskussion bricht immer wieder auf, zuletzt in Gestalt der "Leitkultur"-Kontroverse. Man könnte sie "die neue deutsche Frage" nennen.

Beyme: In der Tat kann das Problem in absehbarer Zeit nicht gelöst werden. Denn wir können und dürfen die NS-Vergangenheit nicht verdrängen. Interessant ist, daß es zwischen Ost und West diesbezüglich einen Unterschied gibt. Zwar sind nun auch die Ostdeutschen, wie die jüngsten Umfragen zeigen, nicht mehr ganz so stolz darauf, Deutsche zu sein, aber sie haben doch noch ein traditionelleres National-Verständnis als die Westdeutschen. Im ganzen haben wir in Deutschland drei Einstellungen: Erstens das Verständnis der Ethnie als einer gottgewollten Einheit, die ewig war und historisch festgeschrieben ist. Zweitens, den Verfassungspatriotismus, zu dessen Anhängern ich mich im übrigen zähle. Diese Gruppe macht aber noch nicht die Hälfte der Bevölkerung aus. Drittens die "Null-Bock-Leute" der Postnationalen, für die die Frage angeblich – siehe meine Äußerung über den Fußball – keinerlei Bedeutung mehr hat. Die Diskussion wird uns also erhalten bleiben.

Besteht wenigstens die Aussicht, daß die nächste Generation die Diskussion entspannter führt?

Beyme: Trittin gehört natürlich noch zu der Generation derer, die all diese Dinge durch die Brille der 68er sehen, also als Vorwurf gegen die Väter. Was ich in Trit-tins Äußerung erkenne, ist weniger eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als vielmehr die noch nicht bewältigte Vergangenheit der 68er Generation: der Gegner wird häufig noch als Faschist verdächtigt. Freilich stirbt auch diese politische Generation einmal aus, insofern dürfen wir hoffen, daß es in Zukunft besser wird.

Brauchen wir, wie jetzt gefordert wurde, eine aktuelle Stunde im Bundestag zu diesem
Thema?

Beyme: Wozu soll das führen? Eine aktuelle Stunde soll einen Sachverhalt aufklären, aber der ist doch klar: Es ist eine unmögliche Äußerung gefallen. Zwar hat Trittin keine Reue gezeigt, aber er hat sich wenigstens entschuldigt. Was sollte also eine solche Stunde bringen? Ich verspreche mir davon nichts, außer Fensterreden.

Professor Lösches Deutung der Diskussion als subkutaner Wahlkampfauftakt mag zu weit gehen.Tatsache ist jedoch, die CDU ist unter Druck: In Rheinland-Pfalz wird ihr die Niederlage fest vorausgesagt, im Stammland Baden-Württemberg sieht sich Ministerpräsident Erwin Teufel durch die populäre Ute Vogt unerwartet herausgefordert.

Beyme: Wenn man die Analysen genau studiert, dann zeigt sich, daß die Karten von Herrn Teufel nach wie vor ganz gut sind. Das einzige, was ihm wirklich gefährlich werden könnte, ist eine Ampelkoalition. Und die hängt im wesentlichen davon ab, als wie stark sich die Republikaner erweisen werden. Aber deren Werte fallen. Wir haben in Hessen gesehen, daß die Gewinne der CDU überwiegend aus zurückgekehrten Republikaner-Wählern bestehen. Also muß sich die CDU nicht allzu sehr fürchten.

Auch wenn die Zahlen doch für Teufel sprechen, die CDU scheint verunsichert. Sind das die typischen Erschütterungen eines Paradigmenwewechsel in Sachen politischer Stil?

Beyme: Das ist sicher ein neuer Politikstil. Die Kampagne von Frau Vogt ist ja sehr geschickt, imagebildend angelgt worden. Selbst Lothar Späth hat die Professionalität ihres Wahlkampfes gelobt – im Vergleich zum altbackenen Konzept Erwin Teufels. Aber wenn Sie sich die Vogt-Plakate einmal genau ansehen, dann stellen Sie fest, daß man diese hübsche junge Frau zu einer zehn Jahre älteren Mimi gemacht hat. Tatsächlich hat man sich nicht auf die junge smarte Dame festgelegt, wie das in der Rezeption der Medien vielleicht erscheinen mag, sondern versucht Teufel eine gestandene Dame gegenüberzustellen. Denn auch die SPD ist, wie alles in diesem Land, eigentlich selbst recht brav und bürgerlich.

Das heißt, Teufel ist gar nicht so "abgemeldet", wie er immer dargestellt wird. Unterschwellig hat man Vogt Teufel etwas angeglichen?

Beyme: Eine Zeitung schrieb, "hübsch und jung sein reicht nicht " – das ist eine Einsicht, die die Wahlkampfstrategen wohl beherzigt haben.

Dann ist es Erwin Teufel gelungen, ein Landesvaterimage aufzubauen? Anfangs tat er sich ja in der Nachfolge des beliebten Lothar Späth schwer damit.

Beyme: Für den schlichten Menschen hier im Land hat er durchaus eine väterliche Qualität, für den Intellektuellen bietete er nichts. Da ist ihm Frau Vogt allerdings auch nicht voraus.

Kritiker werfen Frau Vogt eine Amerikanisierung des Wahlkampfes vor.

Beyme: Amerika ist eben ein Land, das uns immer etwas voraus ist, schon weil die amerikanischen Parteien nicht so kohärent strukturiert sind. So kam man dort schon früher zu dieser Art "Waschmittelwahlkampf". Obwohl wir in Deutschland noch große Mitgliederparteien haben, drängt die Entwicklung
auch bei uns in diese Richtung, denn die Mitglieder spielen eine immer geringere
Rolle.

Frau Vogt verzichtet sogar auf ein Schattenkabinett, während Herr Teufel nicht zuletzt Landesliebling Lothar Späth zur Hilfe geholt hat.

Beyme: Ich finde die Entscheidung von Frau Vogt sehr vernünftig, denn sie weiß genau, sie kommt günstigstenfalls mit einer Ampel-Konstellation an die Macht, also in einer Koalition. Ergo können die Posten später gar nicht so verteilt werden wie vorher angekündigt.

Kommen denn, angesichts der Diskussion um die Spitzenkandidaten, die Inhalte der Parteien nicht zu kurz?

Beyme: In diesem Punkt ist dieser Wahlkampf für einen Wissenschaftler im Augenblick höchst unerfreulich. Man spricht ja gern von "Waschmittelwahlkämpfen".
Aber bei Waschmitteln gibt es wenigstens noch eine Aussage: "So weiß wie dieses Mittel wäscht kein anderes". Aber sogar das fehlt in diesem Wahlkampf. So gibt es etwa auf SPD-Plakaten überwiegend nette Tiere mit der Unterschrift "Es ist Zeit" zu sehen. Das
mag Kindern gefallen, doch die sind schließlich nicht wahlberechtigt. Die Union kontert mit "Komm mit, den Erfolg wählen"
oder "Im Aufwind". Und das, obwohl es auch in diesem Wohlstands-Land natürlich ernste Probleme gibt, wie etwa die Bildungsmisere. Und wenn man Teufel dazu dann doch einmal im Fernsehen sieht, dann langweilt er nicht nur uns, sondern auch seine eigenen Wähler mit unendlichen Statistiken, die zum Beispiel belegen, daß es hier immer noch besser sei als etwa in Bayern.

Der Vorwurf gegen Frau Vogt, sie ersetze Inhalte durch Image, ist also einseitig und nicht fair, vielmehr ein Kennzeichen beider großen Parteien?

Beyme: Das ist richtig. Allerdings, wenn man bedenkt, daß mit Frau Vogt eigentlich eine junge frische Kraft – sie war immerhin einmal Jusovorsitzende hier im Ländle – herangereift sein sollte, und damit auch ein etwas intellektuellerer, substanziellerer Wahlkampfstil, dann darf man zu Recht besonders enttäuscht sein.

Das politische Personal in Baden-Württemberg wirkt insgesamt etwas provinziell.

Beyme: Von außerhalb des Landes sieht man das alles vielleicht etwas dramatisch, hier nimmt man das gelassener.

Was wird am kommenden Sonntag in Baden-Württemberg schließlich die Entscheidung bringen?

Beyme: Die Wahlbeteiligung: Die Nichtwähler werden wohl wieder mal die Wahl entscheiden. Sie sind fast die wichtigste Partei geworden.

Wenn nun doch die CDU überraschend einbrechen sollte und in die Gefahr kommt, Baden-Württemberg zu verlieren. Ist es dann denkbar, daß die Union auf die Republikaner zugeht, um die Bastion zu retten?

Beyme: Das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist doch nur normal, wenn auch einmal die Opposition an die Macht kommt. Hessen war eine Hochburg der Sozialdemokraten, heute regiert dort die CDU. Wenn hier Rot-Grün einmal an die Macht käme, dann wäre Baden-Württemberg endlich auch normal.

Die Umfragen sagen, die Republikaner werden den Wiedereinzug in den Landtag schaffen. Damit hätten sie sich wohl als baden-württembergische Besonderheit endgültig etabliert. Wie ist dieses Spezifikum zu erklären?

Beyme: Das kann man fast nicht erklären, denn Baden-Würrtemberg hat die besten Arbeitslosenzahlen, die besten Produktivitätsziffern etc., die man sich denken kann. Natürlich gibt es bei einem raschen Modernisierungsschub immer auch Modernisierungsverlierer, so wären immerhin etwa fünf Prozent Republikaner zu erklären, aber bei der letzten Wahl sind es doppelt soviele Prozentpunkte gewesen.

Alle Bundespolitiker werden ab Sonntag abend versuchen, die Landtags-Wahlergebnisse zu ihren Gunsten auszulegen. Welche bundespolitische Bedeutung hat der Urnengang tatsächlich?

Beyme: Baden-Württemberg ist so atypisch, daß sich aus dem Ergebnis nicht viel ablesen lassen wird. Außer wenn die Union spektakuläre Verluste hätte. Aber die sehe ich nicht kommen.

 

Prof. Dr. Klaus von Beyme Politikwissenschaftler, geboren 1934 in Saarau/ Schlesien. Von 1967 bis 1973 lehrte er in Tübingen, seit 1974 in Heidelberg. Als bisher einziger Deutscher war er von 1982 bis 1985 Vorsitzender der "International Political Science Association". Der renommierte Professor ist Verfasser zahlreicher Bücher und publiziert eine Vielzahl von Artikeln in Zeitschriften und Zeitungen.

 

weitere Interview-Partner der JF


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen