© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Der Griff nach der Weltherrschaft
Ernst Topitsch über die machtpolitische Tiefendimension des deutsch-sowjetischen Krieges

Seit 1985 habe ich in meinem Buch "Stalins Krieg" die These vertreten, daß der Zweite Weltkrieg in seiner weltmachtpolitischen Tiefendimension ein indirekter Angriff der Sowjetunion auf die Anglo-Amerikaner war, die Zitadellen des "Weltkapitalismus" und wichtigsten Hindernisse für Moskaus Griff nach der Weltherrschaft. Inzwischen ist diese These zunehmend bestätigt worden, wie man den späteren Auflagen (letzte Auflage 1998/2000) meines Buches entnehmen kann. Ernstzunehmende Einwände oder Gegenargumente wurden bisher nicht vorgebracht. Dies alles hat auch dadurch an Aktualität gewonnen, daß Gerhard L. Weinberg in seinem als Standardwerk geltenden Band "Eine Welt in Waffen" mit dem Untertitel "Die globale Geschichte des Zweiten Weltkriegs" gerade die globale Machtpolitik Moskaus übergeht.

Auf die "Präventivkriegsfrage" gehe ich nicht ein, weil sie mir im politischen Zusammenhang zweitrangig erscheint, die Diskussion über den "klassenideologischen" bzw. "rassenideologischen" Vernichtungskrieg gehört nicht zu meinem Thema und wird von kompetenteren Autoren intensiv geführt, wobei besonders auf Joachim Hoffmanns Standardwerk "Stalins Vernichtungskrieg" hinzuweisen wäre.

Für das weltmachtpolitische Spannungsfeld scheinen mir drei Tatsachenkomplexe entscheidend zu sein: 1. Die bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichende Rivalitat zwischen russischem und englischem Imperialismus, aus dessen Hintergrund der amerikanische hervorzutreten begann. 2. Lenins weltrevolutionäres Programm, das auf Moskaus globale Herrschaft hinauslief, und sein Entwurf einer entsprechenden Langzeitstrategie. 3. Stalins raffinierte Durchführung dieser Strategie.

Zwischen dem russischen Koloß und der angelsächsischen Welt befand sich das Deutsche Reich – das noch dazu seit seiner Gründung mit Frankreich verfeindet war – in einer geostrategisch und politisch prekären Lage. Sein kometenhafter wirtschaftlicher Aufstieg und sein oft "parvenühaftes Bramarbasieren" (Max Weber) schuf häufig Mißtrauen und Ängste. Das europäische Gleichgewichtssystem war aus den Fugen geraten. Der Erste Weltkrieg und sein Ausgang bedeutete auch in sozialer Hinsicht eine weitere, gefährlichere Destabilisierung der Lage in Europa und schuf teil- und zeitweise eine Interessengemeinschaft zwischen den "Parias" Deutschland und Rußland.

Zugleich hat Lenin den alten Gegensatz zwischen russischem und englischem Imperialismus durch das Dogma von Endsieg des Sozialismus über den Kapitalismus und die Verkündung der Weltrevolution entscheidend verschärft, aber auch ein psychologisch-propagandistisches, global einsetzbares Machtmittel geschaffen, von dem die Zaren kaum hätten träumen können. Dabei machte er es schon 1920 zur "Grundregel, daß man die Widersprüche und Gegensätze zwischen zwei imperialistischen Mächtegruppen, zwischen zwei kapitalistischen Staatengruppen, ausnutzen und sie aufeinander hetzen soll "Solange wir, wirtschaftlich und militärisch gesehen, noch schwächer sind als die übrige, die kapitalistische Welt, haben wir uns an diese Regel zu halten. Sobald wir aber stark genug sind, den gesamten Kapitalismus niederzuwerfen, werden wir ihn sofort an der Gurgel packen." In diesem Sinne entwarf der Revolutionsführer bereits ein Szenario des "Zweiten imperialistischen Krieges" mit der dann wirklich eingetretenen Mächtegruppierung.

Stalin hat die skizzierte Langzeitstrategie mit eiserner Folgerichtigkeit und taktischer Wendigkeit durchgeführt. Da der Erfolg mit revolutionären Mitteln allein nicht zu erreichen war, schuf er einen gewaltigen militärisch-industriellen Komplex, dessen Leistungsfähigkeit sich dann im Krieg erwies. Vor allem aber war der rote Diktator ein ingeniöser Politiker, dessen Schachzüge von den Zeitgenossen, aber auch von Historikern nur unzulänglich durchschaut worden sind. Er war ein Meister der Täuschung und der indirekten Aktion, der Kunst, die eigenen Absichten durch andere verwirklichen zu lassen und selbst im Hintergrund zu bleiben.

Der Strategie Lenins entsprach auch Moskaus Rüstungspolitik. Zunächst konzentrierte sie sich auf einen Landkrieg, doch schon ab 1935 wurde ein monströses Flottenbauprogramm entwickelt, das 1947 die Sowjetunion zur stärksten Seemacht der Welt machen sollte und eindeutig gegen die Anglo-Amerikaner gerichtet war. Dafür brauchte man als Operationsbasis die Atlantikküste. So zeichnet sich ein Konzept von zwei Phasen ab. In der ersten wollte Stalin unter Ausnützung der Gegensätze zwischen Deutschland und England/Frankreich in einem europäischen Landkrieg jene Küste erreichen, wobei Deutschland zunächst als Rammbock benützt und dann als Hindernis beseitigt werden sollte. Für die zweite Phase war der Endkampf mit den Seemächten bei gleichzeitiger Revolutionierung der Kolonialvölker vorgesehen. So wollte man die Hauptmächte des Kapitalismus "an der Gurgel packen". Es galt daher, diese über die Absichten des Kreml zu täuschen und jeden vorzeitigen Zusammenstoß mit ihnen zu vermeiden.

Der erste Schachzug – die Auslösung des europäischen Krieges mit Hilfe des Paktes vom 23. August 1939 – gelang, wobei Stalin einen längeren Abnutzungskrieg erwartete, an dessen Ende die übermächtige Rote Armee die erschöpften und revolutionär destabilisierten europäischen "Kapitalisten" leicht überwältigen könnte. Doch der spektakuläre deutsche Sieg im Westen schuf eine neue strategische Lage, was die "Zeitgeschichte" bisher kaum berücksichtig hat. Zwischen der Roten Armee und der Atlantikküste stand nur mehr die deutsche Wehrmacht. War sie ausgeschaltet, dann war die Operationsbasis für die zweite Phase gesichert und überdies das alte Schreckgespenst der russischen Politik – ein Zusammengehen Berlins mit dem Westen – ein für allemal erledigt.

Die Anglo-Amerikaner hätten das höchstens durch eine sofortige Verständigung mit Hitlerdeutschland verhindern können, und Stalin fürchtete diese Möglichkeit. So durften sie auf keinen Fall erkennen, daß die vorgesehene sowjetische Großoffensive zwar unmittelbar gegen Deutschland, mittelbar aber bereits gegen sie selbst gerichtet war. Dazu erdachte Stalin eine ingeniöse Kombination von psychologisch-politischer und militärischer Strategie: Der russische Eroberungszug nach Westen sollte als Reaktion auf einen "heimtückischen und vertragsbrüchigen faschistischen Überfall auf die friedliebende Sowjetunion" getarnt werden. So ließ er durch Molotow im November 1940 den "Führer" provozieren, was diesen in seinen eigenen Angriffsabsichten bestärkte, zugleich aber sorgte er durch ei- ne geschickte Abfederung für den Fortbestand des Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939, da er diesen für den Mythos vom "vertragsbrüchigen Überfall" benötigte. Dementsprechend hat Moskau seit dem Ende des Frankreich-Feldzuges sein hohes Rüstungstempo abermals forciert, um gemäß der offiziellen Kriegsdoktrin den deutschen Angreifer in einem gewaltigen Gegenstoß auf seinem eigenen Territorium zu zerschmettern und so den Weg zum Atlantik zu öffnen. Doch die Wehrmacht stieß in den noch unfertigen russischen Aufmarsch hinein, der nach seinem Abschluß gute Erfolgsaussichten gehabt hätte. Ihre anfänglichen Niederlagen ließen aber auch die Sowjetunion im Westen als hilfsbedürftig und ungefährlich erscheinen, verdeckten ihre langfristigen Zielsetzungen und brachten die Anti-Hitler-Koalition zustande, unter deren Deckmantel Moskau nach Überwindung der ärgsten Schwierigkeiten seine Kriegspolitik gegen die Anglo-Amerikaner wieder aufnahm.

Im Sinne dieser Kriegspolitik suchte sich Stalin durch den Neutralitätspakt mit Japan vom 13. April 1941 den Rücken für die Auseinandersetzung mit Deutschland zu decken und zugleich den Krieg im Pazifik zu inaugurieren, der die Handlungsfähigkeit der Anglo-Amerikaner in Europa beeinträchtigen sollte – wieder ein Beispiel "sozialer Werkzeugbenützung".

So hatte der rote Diktator zunächst den inferioren Hitler benutzt, doch bald konnte er sich einer Persönlichkeit von ganz anderem weltmachtpolitischem Gewicht bedienen – des ideologisch verblendeten Roosevelt. Churchill hatte geplant, vom Mittelmeer aus den Russen in Zentraleuropa zuvorzukommen, doch unter Stalins Einfluß torpedierte der Präsident auf der Konferenz von Teheran diese Absicht und bevorzugte ein Konzept, nach welchem die Sowjetunion schließlich die einzige maßgebende Macht in Europa sein würde. In Jalta setzte er dann mit dem Versprechen das Pünktchen auf das i, die amerikanischen Truppen würden spätestens zwei Jahre nach Kriegsende aus Europa abgezogen sein.

Doch etwa seit Mitte 1944 begann die sowjetische Angriffspolitik hinter dem Vorhang der Anti-Hitler-Koalition hervorzutreten und bruchlos in den Kalten Krieg überzugehen. Nun hatten vor allem die großen Anfangserfolge und der spätere zähe Widerstand der Wehrmacht die Erreichung der Atlantikküste durch die Rote Armee verhindert, aber Rest- europa war kaum mehr als eine Girlande von Brückenköpfen an der eurasischen Landmasse. So meinte man wahrscheinlich in Moskau, unter Ausnützung der – auch durch Flüchtlingsströme verstärkten – wirtschaftlichen Not und politischen Instabilität dieser Gebiete die Brückenköpfe doch noch eindrücken zu können. In Washington beschloß man aber, durch großzügige Wirtschaftshilfe und militärischen Rückhalt dem Druck entgegenzuwirken. Indessen agierte der Herr im Kreml wieder nach bewährtem Muster. Wie einst Hitler und die Japaner, so lockte er nun die Chinesen (und Nordkoreaner) in eine raffiniert gestellte Falle, um sie als "Stellvertreter" zu benützen und in Abhängigkeit zu halten. Dazu schrieb kürzlich ein scharfsinniger Autor in der Volksrepublik China, von Anfang an sei es Stalins Kalkül gewesen, einen Konflikt zwischen China und Amerika anzuzetteln, um die amerikanische Handlungsfähigkeit in Europa zu lähmen (FAZ vom 1. Juli 2000). Nach dem Tod des Diktators wurde schließlich der Korea-Krieg stillgestellt.

 

Prof. Dr. Ernst Topitsch, Jahrgang 1919, philosophisch-philologisches Studium unterbrochen durch Kriegsteilnahme (1939–1945), 1946 Promotion über Thukydides, 1962 Lehrstuhl für Soziologie in Heidelberg, 1968 Berufung nach Graz, veröffentlichte 1985 "Stalins Krieg".


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen