© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/01 30. März 2001

 
Medienkanzler und Opposition
von Fritz Schenk

Dem Ereigniskanal "Phoenix" des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist es zu danken, daß wir von Zeit zu Zeit Vergleiche darüber anstellen können, was der Deutsche Bundestag einmal gewesen und in welchen Abgrund von geistiger Verarmung und politischer Impotenz er inzwischen abgesunken ist. In seinen Rückblicken auf große Debatten seit Gründung der Bundesrepublik läßt uns dieser Sender miterleben, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, in der das Parlament tatsächlich seiner Hauptaufgabe nachgekommen war, nämlich die Grundsatzfragen deutscher Politik an erster Stelle zu behandeln. Das geschah mit Leidenschaft und zugleich auf höchstem intellektuellen Niveau. Das schloß ins Persönliche gehende Attacken bis hin zu Beleidigungen nicht aus, aber diese waren eingebunden in die jeweilige Sachdebatte, und so wurden sie denn auch zumeist eher stillschweigend beigelegt.

Der Chronist, dem diese Auseinandersetzungen noch in wacher Erinnerung sind, fragt sich heute, ob er die Gegenwart womöglich zu ernst sieht, ob er Probleme schwerer gewichtet, als sie es vielleicht tatsächlich sind, und von der heutigen Generation (die ja vor allem davon betroffen ist und mit ihnen fertig werden muß) als viel harmloser angesehen werden. Doch bei näherem Abwägen drängt sich sehr schnell immer wieder der Schluß auf, daß gegenüber früher nichts leichter geworden ist. Der alltägliche Blick in die Zeitungen (die für Informationen ohnehin viel wichtiger geworden sind als das Spaß-Femsehen) macht deutlich, daß wir es mit einem Problemstau zu tun haben, der beängstigend ist. Verändert gegenüber früheren Legislaturperioden hat sich folglich vor allem die Art des Umgangs mit den Realitäten, ausgedrückt durch die Oberflächlichkeit, mit der die heute Herrschenden die Gegenwart anpacken, nein schlimmer: an ihr vorbei- oder über sie hinwegreden.

"Herrschende" muß in der Demokratie selbstverständlich heißen: Regierung und Opposition! Ja, in schwierigen Zeiten muß sogar die Opposition an erster Stelle genannt werden, denn Regierungen sind immer geneigt, Schwierigkeiten nicht nur herunterzuspielen, sondern sie sogar schönzureden oder (noch besser) totzuschweigen, die Öffentlichkeit durch wohlklingendes Geschwätz einzulullen. Die Opposition hat die Finger auf die Wunden zu legen, die Regierung zu Offenheit und Wahrhaftigkeit zu zwingen. Das ist das Wesentlichste, was wir aus den früheren großen Debatten des Bundestages erfahren. Das gilt sowohl für die SPD-Opposition aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik (fünfziger und sechziger Jahre, die Zeit von Schumacher, Ollenhauer, Erler, Wehner), wie für die Union in den Siebzigern mit ihren Oppositionsführern Barzel, Carstens und Kohl (und nicht zu vergessen Strauß, der als CSU-Vorsitzender stets ein "Neben"-Oppositionsführer gewesen ist).

Beherrschende Themen der ersten beiden Legislaturperioden des Bundestages waren die innere Verfassung des (zwar noch nicht souveränen, aber freien) jungen deutschen Teilstaates und seine äußeren Beziehungen, ausgedrückt in dem Wort "Westbindung". Da stießen innenpolitisch Welten aufeinander. Die SPD unter ihrem ersten Nachkriegsvorsitzenden und parlamentarischen Oppositionsführer Kurt Schumacher bekämpfte vehement sowohl die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards wie den außenpolitischen Kurs Adenauers in Richtung Westbindung Deutschlands. Für beides hatte sie stichhaltige Argumente und nicht unbeträchtliche Anhänger in der Wählerschaft.

Gegen den liberalen Wirtschaftskurs Erhards opponierte auch der starke Arbeitnehmerflügel innerhalb der Union; denn nur zu logisch klang für die damalige Zeit das Hauptargument der SPD, daß man angesichts der heute unvorstellbaren Not und des allgemeinen Mangels den Binnenhandel und die Preise doch nicht freigeben, sondern das Wenige so sozial wie möglich "bewirtschaften", rationieren und "gerecht" verteilen müsse. Und ebenfalls nicht leichtfertig von der Hand zu weisen waren wegen der deutschen Teilung die SPD-Bedenken gegen die Westbindung, weil sie unter dem Gesichtspunkt der sich verhärtenden Blockbildung die deutsche Wiedervereinigung erschweren, vielleicht verhindern könnte.

Von nicht minderem Rang und von hoher Sachkompetenz getragen waren die Auseinandersetzungen um den deutschen Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, um die Wiederbewaffnung generell, die Rolle Deutschlands in der Nato, die Gründung der Sechsergemeinschaft EWG (aus der inzwischen die Europäische Union geworden ist), die ominöse Stalin-Note zur deutschen Einheit von 1952 (inzwischen durch die Öffnung der außenpolitischen Archive als Finte entlarvt), und nicht zu vergessen die vielen (meist geradezu leidenschaftlichen) Debatten zur Ost- und Deutschlandpolitik sowie zu Grundfragen der deutschen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung (Stichworte Verjährung von NS-Verbrechen, Kriegsfolgelasten, Notstandsrecht, Abtreibung, Betriebs- und Sozialverfassung). Charakteristikum all dieser Debatten war immer, daß, wenn die Regierung schon nicht aus eigenem Antrieb mit Grundsatzäußerungen vor den Deutschen Bundestag trat, sie von der jeweiligen Opposition zu Regierungserklärungen herausgefordert wurde, die dann die Grundlage für die entsprechenden Auseinandersetzungen gebildet hatten.

In diesen großen grundsätzlichen Auseinandersetzungen liegt ja die wesentliche Bedeutung des Parlaments. Durch seine Debatten- und Ausschußarbeit werden Hintergründe über Absichten und weitergehende Folgerungen der Regierungspolitik deutlich gemacht. So sollte sich die Union an ihre Leistungen aus dem Ringen um die Ostverträge und den innerdeutschen Grundlagenvertrag erinnern. Ihrem Bohren war es zu verdanken, daß es am Ende zu Klärungen durch das Bundesverfassungsgericht gekommen war, durch welche die deutsche Frage offengehalten wurde.

Die SPD versucht heute die Tatsachen zu verdrehen und sich und ihrer Ostpolitik die friedlich wiedergewonnene deutsche Einheit zuzuschreiben. Tatsächlich wollte sie "klare Verhältnisse" schaffen, die "Geraer Forderungen" Honeckers anerkennen, was hieß, die damaligen "Realitäten" rechtlich festzuschreiben und den europäischen Frieden (Gorbatschow nannte es später"das gemeinsame europäische Haus") auf der Basis von zwei deutschen Staaten errichten. Mit diesen Gedanken spielte sie ja sogar noch 1989/90, als die Demonstranten in der schon am Boden liegenden DDR längst "Wir sind ein Volk" in die Welt schrieen.

Ähnlich hatte es sich mit dem KSZE-Prozeß und der Schlußakte von Helsinki verhalten. Da läßt sich die heutige Unionsführung unterstellen, sie habe "Helsinki gar nicht gewollt" und nimmt hin, daß sich Ex-Verbündete der kommunistischen Unterdrücker brüsten, den "friedlichen Wandel" in Bewegung gesetzt zu haben. Tatsächlich war die berühmte Schlußakte zunächst als ein Vor-Friedensvertrag konzipiert, der die europäisch-deutschen Verhältnisse für alle Zeiten völkerrechtilch verbindlich festschreiben wollte. Es war dem Drängen der leider zu früh verstorbenen (und auch in der CDU leider vergessenen) rechtlichen Sachwalter Karl Carstens, Werner Marx, Alois Mertes und Franz Josef Strauß zu verdanken gewesen, daß der Menschenrechts-"Korb" III aufgenommen und voller Bestandteil der "Akte" wurde. Und gerade deshalb, weil es eben eine "Akte" und kein völkerrechtlich verbindlicher Schlußvertrag geworden war, ließen sich die europäischen Verhältnisse offen halten, was den vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten der neunziger Jahre alle Freiheiten bewahrte. Gerade in diesen für ganz Deutschland existenziellen Fragen, aber nicht minder in vielen Grundsatzentscheidungen bis Ende des vorigen Jahrhunderts, ist der Deutsche Bundestag seinem verfassungsgemäßen Auftrag nachgekommen und hat bewiesen, daß in Westdeutschland die Lehren aus den parlamentarischen Wirren von Weimar gezogen worden waren.

Das ist seit Amtsantritt des rot-grünen Bündnisses unter Schröder und Fischer Vergangenheit. Nach der ersten Regierungserklärung Schröders versuchte sich Wolfgang Schäuble zwar in die neue Rolle des Oppositionsführers hineinzufinden, was ihm auch zu gelingen schien. Bestanden die Ziele Schröders doch vorwiegend aus Verhinderungen: Ausstieg aus der "Atomwirtschaft", Rücknahme der noch unter Kohl mühsam und – wegen der SPD-Blockaden im Bundesrat – nur unzureichend begonnenen Sozialreformen. Hinzu kamen die trotzköpfig-unwürdige Flucht Lafontaines ins Saarbrückener Privatleben und andere personelle Patzer. Das ließ Schröder zunächst alt aussehen und bescherte der Union 1999 die unerwartete Folge von Wahlsiegen in Bundesländern und Kommunen. Mit der CDU-Parteispendenaffäre, die sich zu einem handfesten Personen- und Finanzskandal entwickelte, war das vorbei. Seit gut einem Jahr versucht die CDU mit der Doppelspitze Merkel/Merz wieder Tritt zu fassen, was bisher Versuch geblieben ist.

Die Schwäche der Opposition wertet den Deutschen Bundestag in seiner Gesamtheit ab. Die Veranlagung Schröders (abgeschwächt auch die seines Stellvertreters Fischer), über alle (auch die emsthaftesten) Probleme mit geradezu bewundernswerter Nonchalance, Beliebigkeit und Unbekümmertheit hinwegzureden, sich von nichts und niemandem aus der Ruhe oder in Verlegenheit bringen oder zu Aufgeregtheit oder verletzender und bewußt beleidigender Arroganz hinreißen zu lassen (was bei Helmut Schmidt besonders stark ausgeprägt war), macht ihn schwer angreifbar. Deshalb hat er ja den Titel des "Medienkanzlers" erhalten, den mögen Journalisten wie das Publikum, vermittelt er doch den Eindruck der Aufrichtigkeit, vor allem der menschlichen Zugänglichkeit. Das ist kein kleinlicher Abwiegler, und er spielt nie "beleidigte Leberwurst". Um gegen diese Figur Punkte zu machen, bedarf es mehr als kleiner Nadelstiche. Schröder ist zu einem jener berühmt-berüchtigten "dicken Bretter" geworden, durch die man nicht mit dem Hand-Drillbohrer kommt. Aber wo ist bei der Union das "schwere Gerät" zu erkennen, das diesem Stamm über die Rinde hinaus ans Fleisch geht und hoffen läßt, daß er auch gefällt werden könnte?

Wie bereits die früheren personellen Mißlichkeiten gezeigt haben, ist Schröder wohl kaum über "Personales" beizukommen. Kein Bundeskanzler hat jemals in einer ganzen Legislaturperiode so viel Ausfälle und Wechsel in seinem Kabinett hinnehmen müssen wie Schröder in nur zwei Jahren. Sich also auf die zwielichtige Vergangenheit der jetzigen Koalitionsgrößen zu kaprizieren, wird die Union nicht einen Schritt voranbringen. Das schon deshalb nicht, weil das Gros der heutigen Medienmacher dem gleichen Milieu entstammt oder zumindest schon immer mit diesem sympathisiert hat. Die Angriffe auf die Regierungspolitik sollten daher vor allem über Sachthemen gefahren werden. Und daran ist doch kein Mangel.

Wo bleibt die große Debatte über Europa? Wie soll sich die Ost-Erweiterung vollziehen? Was wird aus dem Euro? Ist es nicht ein unbeschreiblicher Skandal, daß sich das Airbus-Konsortium soeben über die Produktion des "Super-Großraumflugzeugs" einig geworden ist, dieses weltweit auf großes Interesse stößt, erste Bestellungen bereits eingehen – und der voraussichtliche Preis nicht in Euro genannt werden kann, sondern in Dollar angegeben werden muß? Über die verfahrene EU-Agrarpolitik, BSE und andere Seuchen, über Fleisch- und sonstige Vernichtungsaktionen von Lebensmitteln mag zwar kaum noch jemand etwas hören oder lesen, aber das sind dennoch wortwörtlich ungelöste Existenzprobleme für Millionen, von den oft skandalös-schnodderigen Propagandasprüchen der wortgewaltigen Frau Künast ganz zu schweigen. Bundeswehrreform, neue Verteidigungskonzeption unter Beachtung der amerikanischen Pläne zur Raketenabwehr, Ausländerrecht, Bildungspolitik im Lichte der neuen Technologien, Renten- und Gesundheitsreform, die verfahrene Steuerpolitik und, und, und; die Themen liegen sozusagen auf der Straße, sind Dauergespräch an Arbeitsplätzen und Stammtischen, aber sie gehören in Demokratien zuerst ins Parlament!

Es ist ja nicht so, daß die CDU durch die Finanzaffäre unaufholbar gegenüber Rot-Grün ins Hintertreffen geraten wäre. Soeben hat sie bei den Kommunalwahlen in Hessen, wo sich ja ein bedeutender Teil des Skandals abgespielt hatte, wieder zugelegt und vielfach die dort einst übermächtige SPD auf den zweiten Platz verwiesen. Noch wichtiger für die Demokratie ist aber die unter fünfzig Prozent liegende Wahlbeteiligung. Wenn den Parteien die Wähler wegbleiben, wenn sich das Volk zurückzieht, weil es den Parteien nicht mehr traut, sollte das als weit wichtigeres Alarmsignal zur Kenntnis genommen werden als die Provokation eines Herrn Trittin oder die Krawalle einiger verführter (und wahrscheinlich bezahlter) Glatzköpfe. Und vor allem die parlamentarische Opposition sollte sich von der Regierung nicht die falschen Themen auf- und damit vom Wesentlichen abdrängen lassen.

Es bleibt also am Schluß die Frage, ob sich diese Opposition überhaupt selber über das Wesentliche im klaren sowie willens und in der Lage ist, es wieder zur Hauptsache in Parlament und Öffentlichkeit zu machen.

 

Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 Co-Moderator, zuletzt Redaktionsleiter des ZDF-Magazins. Danach war er bis zu seiner Pensionierung 1993 Chef vom Dienst der Chefredaktion des ZDF. Seither ist er als freier Publizist tätig.


 
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