© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/01 06. April 2001

 
In beängstigender Ruhe rollt der Zug vorbei
Ein Castor-Gegner berichtet hautnah von seinen Eindrücken und Erfahrungen im Wendland
Urs Freyburg

Halbstündlich aktualisieren die Nachrichten aus unserem kleinen Autoradio die Information über den Stand der Dinge auf der Castorstrecke. Es ist Dienstag, Punkt 17 Uhr, als wir erfahren,daß "bei Wendisch Evern 500 Demonstranten die Gleise besetzt halten" und "sich mehrere Aktivisten zwischen den Schienen einbetoniert haben". Ungeduldig akzeptieren wir die aufgezwungene Fahrtgeschwindigkeit. Mit unserem Kleinbus erreichen wir fünf endlich die Elbebrücke, und zeitgleich mit dem Sonnenuntergang entdecken wir erstmals das Sonnensymbol der "Freien Republik Wendland". Mehr und mehr Höfe, Felder und Straßen ziert das gelbe "X", Feldzeichen des Castorprotestes, Sinnbild des Widerstandes und Mahnung zugleich. Als wollten sie uns zurufen: "Vorsicht, Gefahr! Radioaktivität!", werfen die Markierungen das Licht unserer Scheinwerfer zurück.

In Dannenberg, wo wir in den nächsten Stunden den umstrittenen Transport erwarten, empfangen uns mehrere Polizei-Hundertschaften, einer ebenso großen Zahl von Demonstranten gegenüber – darunter auch weitere Freunde. Wetter- und wasserwerferfest gekleidet ziehen wir in Richtung Bahnhof. An einer für den Transport entscheidenden Kreuzung verwehren starke Polizeikräfte den weiteren Weg. Dennoch ist die Stimmung vor Ort eher gelassen als gespannt. Die wenigen hundert Demonstranten, welche sich um drei Feuer scharen, sehen sich unbehelmten Polizisten gegenüber – freundlich die Lage diskutierend. Man könnte glauben, man sei Statist in einem Werbefilm der Polizei: "Protest ja, Gewalt nein" – unter dieser Losung warb die Polizei die letzten Wochen im gesamten Wendland.

Gegen 22 Uhr führt das Ende einer Demonstration in Dannenberg zum Zustrom tausender Protestler. Mit ihnen verstärkt sich auch die Wirkung der anfangs eher kläglichen Sprechchöre. Die Menschen füllen die Straße zur gesperrten Kreuzung so auf, daß selbst ein angrenzender Lärmschutzwall von den Demonstranten besetzt wird. Die Stimmung wird zusehends ernster und formt sich zu Entschlossenheit. Die Polizei legt wie auf Stichwort Schutzkleidung an und unterstreicht ihre Absicht, nicht zu weichen, mit dem Vorzeigen der zuvor versteckten Schlagstöcke. Anschließend flammen Scheinwerfer auf, fahles Licht erhellt die Szene und zuvor im Dunkeln stehende Wasserwerfer werden sichtbar. Der Hinweis der Polizei, nur das Gelände ausleuchten zu wollen und die Wasserwerfer "nur bei Gewalt aus den Reihen der Demonstranten" einzusetzen, sorgt für lautstarkes Gelächter. Bitter bestätigt sich die Vorahnung wenige Minuten darauf: Auf der gegenüberliegenden Seite der "strahlenden" Wasserwerfer strömen eilig und ohne ersichtlichen Grund Dutzende Castor-Gegner vom dort befindlichen Wall. Dann "helfen" den letzten Unentschlossenen kräftige Wasserstrahlen beim unfreiwilligen Abstieg von der Erhebung.

Nur Augenblicke später besetzt eine Polizeikette den Wall. Wie Sieger triumphieren sie auf der künstlichen Erhebung. Ihre bedrohliche Silhouette vor den rückwärtigen Scheinwerfern und die plötzliche Stille bewirken eine eigenartige Stimmung, fast wie die Ruhe vor einem noch größeren Sturm. Die Polizei hat die Menge nun von drei Seiten eingeschlossen. Nur der Weg zurück in die Stadt bleibt frei, als wollte der Einsatzleiter jedem von uns sagen: "Bitte gehen Sie nach Hause, hier gibt es nichts zu sehen!" Auf unserer Seite ein wütendes Pfeifkonzert. Zwischen die trocken gebliebenen Demonstranten streuen sich die durchnäßten Menschen – in ihren Gesichtern der Schock der Auseinandersetzung.

Schwarze Fahnen flattern allen anderen voran

Wir dagegen beschließen spontan, uns den verlorenen Wall wiederzuholen – natürlich ohne Gewalt. Die heftige Abwehr der Polizei zu Beginn ebbt mit der Zeit ab. "Keine Gewalt!" und "Wir sind das Volk!"-Chöre scheinen zu überzeugen. Unsere schwarzen Fahnen – traditionelles Zeichen gegen Staatswillkür und Fremdbestimmung – flattern allen anderen voran. Hier das Absingen von Widerstandsliedern, dort Diskussionen zwischen den Beamten und uns – die optimale Protestszene. Einige Übereifrige rufen lautstark die internationale Revolution aus. Ein anderer kommentiert, es fehle nur noch, daß nun das Lied vom "kleinen Trompeter" angestimmt werde. Ein weiterer bemerkt: "Wohl einige Jahrzehnte zu spät geboren!"

Das Patt zwischen Polizei und Demonstranten läßt immer mehr Castor-Gegner aufgeben. Auf unserer Seite fehlt es an Information und Koordination. So kommt es, daß die beachtliche Protestmenge in alle Richtungen "zerfällt" – wie das radioaktive Material in den Castor-Behältern. In der Hoffnung, uns neu zu sammeln, treibt es uns ins "Camp" auf der "Essowiese" nahe des Verladebahnhofs. Während wir und die anderen Demonstranten noch unschlüssig herumstehen, werden wir Zeugen eines erschreckenden Vorfalles. Plötzlich macht sich auch hier Unruhe breit. Autonome meinen einen Mann als "Rechten" erkannt zu haben. Unter "Nazi,Nazi!"-Rufen verfolgen sie ihn. In seiner Not flüchtet er sich in ein an der Esso-Tankstelle abgestelltes Auto. Die Autonomen verlieren alle Hemmungen und dreschen von allen Seiten auf das Fahrzeug ein. Der Wagen wird "entglast" und demoliert. Bevor wir selber eingreifen können gehen andere Castor-Demonstranten dazwischen und retten den verängstigten Mann. Sie schieben das zerstörte Auto mit dem vermeintlichen "Nazi" unter fliegenden Flaschen und Steinen hinter die Polizeikette. Die übrigen Menschen sind sichtlich entsetzt, und es ist spürbar, daß sie das gleiche denken wie wir, den Gedanken von den "unehrlichen Demonstranten", denen der Castor eigentlich egal ist, denn sie suchen ihren Privatkrieg im Wendland.

Wir diskutieren wieder die Castor-Blockade und entscheiden uns für den Schienenprotest vor Dannenberg statt der Straßenblockade zwischen Dannenberg und Gorleben. Die Entscheidung stellt sich später als richtig heraus. Denn die Information, das Kindercamp in Hitzacker sei nicht zu erreichen, erweist sich als falsch, auch wenn die Gleise tatsächlich von der Polizei gesichert wurden. Mit einigen anderen Castor-Gegnern fassen wir den Entschluß, den Bahnübergang zu umgehen, um über die Wiesen an die Schienen zu gelangen. Gedacht – getan, wir nähern uns unserem Ziel bis auf eine überschaubare Entfernung. Wir sind aber zu wenige Demonstranten, um schon etwas ausrichten zu können, also müssen wir auf den Castor warten. So harren wir im nächtlichen Wald liegend und sitzend der Dinge, die da kommen sollen. Ab und zu zerreißt der Lichtkegel eines Hubschraubers die sternklare Nacht – nur knapp verfehlt er unsere Schar. Flüsternd gibt man sich Bericht über die kältesten Körperstellen oder diskutiert mögliche Aktionen. Die in der Nähe grasenden Schafe lassen sich durch unsere Anwesenheit nur anfangs stören. Piepsend kommen die neuesten Nachrichten über den Verbleib des Zuges per Funktelefon. Er steht und steht und steht.

Um zwei Uhr in der Frühe brechen wir die Aktion vorerst ab, um in der Dorfkirche wenigstens etwas zu schlafen. Die Fußbretter der Bänke müssen dafür genügen. Eine ganze Kirche voll müder Idealisten – ein Anblick, der mich sehr berührt. In der Gewißheit, daß es im Wendland viele weitere solcher "Kirchen" gibt, schlafen wir ein. Hier ist jeder anders und doch sind alle einig. Für eine Nacht sind alle Unterschiedlichkeiten vergessen. Hier sind die Menschen plötzlich Volk – aus Einzelnen wird Bewegung.

Hier sind die Menschen plötzlich Volk

Eine leise Stimme aus einem Taschenradio weckte uns sanft. Jemand informiert sich über die aktuelle Lage. Nach dem Ende der Nachrichten gibt er sein Wissen lautstark weiter: "Der Castor steckt seit über zehn Stunden bei Dahlenburg fest". Freudiges Klatschen weckt die letzten Schlafenden. Mit frischen Kräften gehen wir den zweiten Tag "X" an. Gut gefrühstückt, doch wieder schlecht informiert fahren wir nach Neetzendorf, um die Helden von Robin Wood zu bestaunen. Leider ist vor Ort keine weitere Aktion zu erwarten. Also fahren wir weiter Richtung Castor, der immer noch im Bahnhof Dahlenburg steht.

Kurz vor dem Bahnhof erfahren wir von einer kleinen Sitzblockade. Vor Ort sitzen schon etwa 50 Menschen auf den Gleisen. Der Bundesgrenzschutz ist nur mit einigen wenigen Beamten vertreten. Immer neue Blockadewillige stoßen zu uns. Die Beamten strahlen eine Ruhe aus, die uns fast schon unheimlich vorkommt. Wie als Antwort darauf will sich einer von uns an den Gleisen festketten, doch die Kette erweist sich als zu kurz. Wir setzen die Blockade auf konventionelle Art und Weise fort.

Bei bestem Wetter gleichen die nächsten Stunden eher einem gemütlichen Beisammensein als einer Widerstandsaktion. Doch dumpfes Dröhnen läßt uns das Schlimmste ahnen. Plötzlich sind mehrere Transporthubschrauber des Grenzschutzes mit ohrenbetäubendem Lärm über uns, gehen nahebei nieder und entlassen ihre vermummte, bedrohlich gerüstete und gepanzerte Fracht. Ahnungsvoll rücken alle auf den Gleisen enger zusammen. Die letzten an den Bahnhängen verlassen ihre gemütlichen Plätze, um sich ebenfalls auf die Schienen zu setzen. In den vergangenen Stunden ist die Zahl der Castor-Gegner auf etwa zweihundert angestiegen. Die grünen Truppen des BGS rücken von den Hubschraubern auf uns zu. Unsere Befürchtung bestätigt sich: Die Räumung beginnt!

Der Kanon: "Wehrt euch, leistet Widerstand gegen den Atomtransport im Land. Schließt euch fest zusammen, schließt euch fest zusammen", erklingt aus voller Überzeugung. Alle haken ihre Arme mit denen der Nachbarn ineinander. Mann auf Mann, Frau auf Frau. Doch dann werden die Äußersten weggerissen und einzeln fortgetragen. Das beruhigende Polster an Menschen zwischen mir und den Beamten schwindet zusehends. Schließlich wird auch mir die Frage des Tages gestellt: "Räumen Sie die Schienen freiwillig?" Ich verneine. Der Beamte wiederholt die Frage, ich die Antwort. Den sanften Versuch, mich von meinen Nachbarn zu trennen, kann ich noch verhindern. Doch die rabiatere Gangart verfehlt ihre Wirkung nicht. Einige Augenblicke und drei gekonnte Vorwärtsrollen später finde ich mich am unteren Ende des Gleishanges liegend wieder. Hier treffe ich auch meine vor mir weggetragenen Kameraden. Wir sammeln uns, und vereint versuchen wir den Gleisdamm erneut zu besetzen. Doch die Polizei verteidigt ihre Stellung. Nach einigen Versuchen schaffe ich es irgendwann doch – etwas unterhalb der alten Blockade.

Schnell füllt sich nun auch dieser Gleisabschnitt mit sitzenden Menschen. Aus der gleichen Richtung wie zuvor erscheint erneut "grünes Unheil". Doch diesmal bleibt es nicht beim mulmigen Gefühl, bekommen wir es wirklich mit der Angst. Denn die anrennende Abteilung betreibt ihr Knüppelschwingen diesmal nicht nur als Drohung, wie sofort zu sehen ist, sondern als Vorgeschmack auf das Kommende. Wer sich nicht rechtzeitig in die Büsche geschlagen hat, hat Pech: Noch stehende oder fliehende Demonstranten werden kurzerhand rückwärts den Hang hinuntergestoßen. Die Frage nach freiwilliger Aufgabe wird diesmal großzügig durch Tritte und Schläge ersetzt. Ergebnis ist zwar ein schnell geräumtes Gleisbett, doch um den Preis einiger Verletzter und einer aufgepeitschten Menschenmenge. Und die Ordnungsmacht bleibt auch nach diesem Sieg bei ihrem übertrieben harten Durchgreifen. Juristisch geschulte Demonstranten pochen – allerdings vergeblich – auf die Einhaltung der 50-Meter-Sperrzone und protestieren gegen die ungerechtfertigten Einschnitte in die Versammlungsfreiheit. Die Polizeikräfte lassen kaum mit sich reden. Wir haben keine Chance, wir müssen aufgeben.

Weiter fahren wir zum Bahnhof Dahlenburg, wo noch immer der Castor steht. Die Lokomotiven lassen ihre Motoren allerdings schon warmlaufen. Unsere Niederlage hat sich also bis hier herumgesprochen. Einem Wettrennen gleich fahren wir weiter Richtung Dannenberg. Irgendwo sollte doch eine erneute Blockade möglich sein. Und tatsächlich erfahren wir von einer Straßenblockade durch Traktoren nahe Seerau.

Dort sind die Schienen erst spärlich von Polizeikräften gesichert. Die anwesenden Demonstranten besetzen – immer wieder von der Polizei vertrieben – mal diesen und mal jenen Gleisabschnitt. Hätten die Ereignisse nicht solch ernsten Hintergrund, könnte der Eindruck eines Räuber- und Gendarmenspieles aufkommen. Ich erklimme einen Baum auf dem Schienenwall, dessen Äste direkt bis über die Gleise reichen. Der Truppführer persönlich macht sich die Mühe, mich eigenhändig runterzuholen. Zurück auf dem Boden der Tatsachen, muß ich abermals das Eingreifen der "staatlichen Putztruppe" – angeblich eine sächsische Einheit – flüchtend miterleben.

Erneut fahren Wasserwerfer auf, verdunkeln Hubschrauber den Himmel, nehmen Polizisten Aufstellung. Der "strahlende Zug" müßte jeden Moment durchkommen. Während diese Ahnung in mir ausreift, bestätigt der heraneilende Räumbagger dessen Ankunft. In beängstigender Ruhe, als wollte der Zugführer die Demonstranten verhöhnen, rollt er an uns vorbei. Auch das Auseinanderziehen der Polizeikette bringt keine ausreichende Lücke – es gibt kein Durchkommen. Der Zug ist durch und mit ihm die Hoffnung auf Erfolg dahin.

Nur mühsam schleppen wir uns auf den Spuren des Zuges Richtung Dannenberg. Die Stimmung vor Ort gleicht einem Hexenkessel. Starke Polizeikräfte versuchen den Unmut der Demonstranten zu bändigen. Ein Teil von uns tritt die Fahrt nach Hause an. Mit ungutem Gefühl verlassen wir das verratene Wendland. Die Hoffnung, unseren Platz würden andere einnehmen und den Straßentransport erfolgreich behindern, erfüllte sich nicht. Der Castor erreichte den Salzstock in Gorleben in weniger als zwei Stunden.

Als Reaktion auf die Castor-Proteste wollen die Innenminister der nördlichen Bundesländer die Gemeinnützigkeit der Umweltorganisationen Greenpeace und Robin Wood prüfen lassen. Es sei nicht zu verantworten, daß Rechtsbrecher vom Staat unterstützt werden, hieß es aus dem niedersächsischen Innenministerium.


 
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