© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/01 06. April 2001

 
Weltbilder – Machtworte
Optik und Rhetorik rangeln um Herrschaft über die Wirklichkeit
Silke Lührmann

Am Anfang war das Wort", erzählte Johannes, der kühnste und kühlste der Evangelisten. Heute wirbt die Telekom mit der Behauptung "Zukunft wird aus Ideen gemacht" für ihre Mobilfunktarife. Diese Sätze beschwören eine Welt, wie wir Schriftgelehrten sie uns wünschen: eine Welt, die sich vom Schreibtisch aus beherrschen läßt. Deshalb möchten wir so gern, daß die Natur uns ein "Buch des Lebens" geschrieben hat, das wir nur zu lesen lernen müssen. In einer solchen Welt wäre das Wort wirklich mächtiger als das Schwert und allemal mächtiger als das Bild. Nur eine solche Welt braucht Schreiberlinge, die sie den weniger Wortgewandten erklären.

"Wir sind alle zu lebenslänglicher Isolationshaft in unserer eigenen Haut verdammt." Tennessee Williams, der das sagte, war selber Schriftsteller, Dramatiker gar; er ernährte sich von der Illusion, die Grundbedingungen menschlicher Existenz seien dialogisch vermittelbar. Er wußte um die Brüchigkeit der Sprachbrücken, die wir über unsere Zellwände hinweg füreinander bauen. Und er war ehrlich und verzweifelt genug, das schwärzeste Geheimnis seiner Zunft preiszugeben: Am Anfang ist niemals das Wort gewesen. Am Anfang – wie am Ende – steht immer die Wortlosigkeit der Welt, der der Mensch nackt und wehrlos ausgeliefert ist.

Wir mögen in Worten denken; leben tun wir in einer Welt, die wir durch die Sinne wahrnehmen. Jedes Sprechen trachtet, die Welt nachzubilden und neu zu bilden, Ordnung in ihr zu schaffen: ihre Bildhaftigkeit, deren Unvernunft uns überfordert, in Worten und Zahlen zu greifen.

Gegen das gleichgültige Schweigen der Welt anzuschrei(b)en bedeutet auch, sie entfremden und uns aneignen zu wollen. Dagegen wehrt sich die Welt, und sie wehrt sich stumm. Nicht in Bildern, aber indem sie Ereignisse aufwirft, denen wir kurzzeitig sprachlos gegenüberstehen, vor denen noch die gewaltigsten Worte versagen, in deren Angesicht bestenfalls ein oberflächlichen "Wissen von" möglich wird: Was unser Leben bedeutet, wissen wir nicht; wir wissen bloß, wie es aussieht.

In den letzten hundert Jahren sind – bei gleichzeitiger Abwertung des "tieferen", weil diskursiv ausgehandelten "Wissen, daß" – Technologien rasant entwickelt worden, die eine Vervielfältigung dieses optischen Wissens über die Welt erlauben. Die Menschheit war nicht länger allein auf jene brüchigen Konstrukte angewiesen, um Welterfahrung zu teilen oder tauschen. Unter den Akademikern, aber auch im gemeinen Fußvolk wuchs Mißtrauen gegen die Macht des Wortes. Dieser allgemeinen Verunsicherung begegneten die Gelehrten mit immer heftigeren Wortschwällen und das Volk, indem es wortkarg wurde, die Sprache mit ihren Regeln, ihren Systemzwängen zu vergessen drohte.

Sprache ist willkürlich, weil sie allmächtig ist, und ohnmächtig, weil sie willkürlich ist. Anders gesagt: Worte haben genau die Macht, die wir ihnen zuzugestehen bereit sind. Bildern dagegen wohnt eine ontologische Aussagekraft inne, die zu verleugnen albern, aber keineswegs unüblich ist. Nicht, daß Bilder frei von Ideologie wären. Die anfangs in die Fotografie gesetzte Hoffnung, sie könnte uns eine objektive – eine "wahre", nicht von Ein- und Ansichten aus zweiter Hand verstellte – Sicht auf die Welt bescheren, hat sich schnell als trügerisch und naiv entlarvt. Journalisten wissen, wie wichtig die richtige Bildunterschrift ist – und haben sich flugs ein Stück Schrifthoheit gerettet, indem sie das Bild als Illustration verwenden. Aber jedem Foto, jeder Abbildung geht etwas Vorhandenes voraus, während Worte ohne Umstände aus der Luft gezaubert und beliebig zu biegen sind. Zu schreiben "Joschka Fischer gab dem Polizisten einen Kuß" oder "Joschka Fischer trat den Polizisten mit Füßen" ist ein Aufwand von wenigen Buchstaben. Entsprechende Fotos zu produzieren kostet ungleich größere Mühe.

Der Reflex des Intellektuellen, sich über die plötzliche Macht der Bilder zu entsetzen, ist die Angst des Predigers vor dem Gottesbildnis, das ihn entthront. So sind Bilderstürme ein weniger abscheuliches Verbrechen als Bücherverbrennungen. Wer Bilder zerstört, vernichtet materielles Gut, läßt aber das Deutungsmonopol der Schreibkundigen ungebrochen.

Derselben Furcht entspringt von jeher die Verachtung und die Ächtung des Bildes die heute noch in Zensurdebatten um Gewaltdarstellungen und Pornographie aufwallt. Längst werden literarische Fiktionen als legitime ways of worldmaking (Nelson Goodman) begriffen, als "symbolische Handlungsräume" – Modellwelten, in denen seriöse Experimente stattfinden. "Wir können Menschen in Kürbisse verwandeln oder sicherstellen, daß die Guten siegen, oder ausprobieren, wie es ist, wenn die Bösen siegen", schwärmt etwa Kendall Walton. Für ihn gleichen Erzählungen – gerade weil sie lückenhaft, weniger "realitätsgesättigt" (Wolfgang Iser) sind als Filme – Versatzstücken in Kinderspielen. Sie reizen das Vorstellungsvermögen des Lesers und regen die erforderlichen Abwehrkräfte an, um den Alltag zu bewältigen.

Filmemacher dagegen müssen sich immer wieder – von Horkheimer und Adorno über Theoretiker und Sozoiologen wie Daniel Boorstin, Neil Postman, Guy Debord bis hin zu Schriftstellern wie John Grisham – den Vorwurf anhören, nichts als Traumfabrikanten zu sein: Rattenfänger, die ihr gutgläubiges Publikum mit den Verlockungen ihrer grellbunten oder schwarzweißen Realitätseffekte aus der Wirklichkeit entführen.

Das Gegenbeispiel heißt Sebnitz. Hier funktionierte der Austausch von Anschauungen über die Sprache, weil die Worte zu bestätigen schienen, was man längst zu wissen meinte: Der "Wilde Osten" der Bundesrepublik ist glatzenverseucht, seine Bevölkerung feiges Mitläuferpack. Wer hätte es ob der Autorität solcher Worte – auch wenn sie in der Bild-Zeitung standen, die sonst nicht als Gralshüter der Wahrheit gilt – gewagt, ihnen nicht blind zu trauen, sondern visuelles Beweismaterial zu verlangen, einen Videofilm etwa, auf dem zu sehen ist, wie Neonazis einen kleinen Jungen ertränken und eine ganze Stadt tatenlos zusieht? Dieser moralischen Gültigkeit haben die Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt kaum Abbruch getan – zwischen "Es ist passiert" und "Es hätte passieren können" besteht eben nur ein grammatikalischer Unterschied, zwischen einem historischen und einem performativen "Es ist passiert" gar keiner.

Schreiben und Lesen zu verlernen ist kein Ausweg, denn dann wären wir wieder nackt. Was bleibt, ist die (verbal errungene und voller Skepsis zu vermittelnde) Einsicht, daß das Sehvermögen kein gänzlich wertloses Nebenprodukt der Evolution ist, sondern eine Waffe wider die Verblendung.


 
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