© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Die deutsche Ahnungslosigkeit
Carl Gustaf Ströhm

Seit der Wiedervereinigung hat sich Deutschland – im Vergleich zur "alten" Bundesrepublik – aus einem west- in einen mitteleuropäischen Staat verwandelt. Der "Osten" ist um vieles nähergerückt. Warschau und Kiew, Reval und Riga – um von Prag oder Budapest gar nicht zu reden – liegen vor der deutschen Haustür. Deutsche Wirtschaftler und Banken machen mit diesem "Osten" intensive Geschäfte. Zuwanderer aus den Ländern, die einst hinter dem Eisernen Vorhang lagen, kommen (mehr oder weniger erwünscht) in Scharen über die deutsche Grenze.

Und doch sind die Deutschen – das klassische Volk der Mitte Europas – den Ländern und Völkern dieser Mitte und des Ostens auf eigentümliche Weise fern und fremd geblieben. Gewiß, wir fahren wieder in all die Städte, die uns verschlossen waren – aber nehmen wir wirklich wahr, was sich dort vollzieht? Die deutsche Außenpolitik ist seit dem Amtsantritt der rot-grünen Koalition substanzlos und blaß. Joschka Fischer ist der erste deutsche Außenminister, der nicht einmal eine Handwerksausbildung, geschweige denn ein akademisches Diplom vorzuweisen hat. Dementsprechend dürftig wirkt, was er zur Außenpolitik und besonders zur Ostpolitik zu sagen weiß: vorgestanzte Platitüden. Dabei gäbe es für Deutschland als stärkste Kraft der EU und als Herzland Mitteleuropas genug zu sagen – nicht im Sinne von Präpotenz, sondern im Geiste jenes Einfühlungsvermögens, das einst Johann Gottfried Herder dazu führte, die "Seele" der Völker zu entdecken.

Über ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer und dem Zerbrechen des Kommunismus ist die Lage durchaus dramatisch. Rußland und China – die beiden potentiellen Großmächte – bereiten sich auf eine kontrollierte Konfrontation mit den USA vor. Die Vorgänge um das auf Hainan notgelandete US-Aufklärungsflugzeug sind vielleicht nur ein Vorgeschmack künftiger Konflikte. Wie wird sich Deutschland dann positionieren? Wird es den USA folgen – oder eigene Wege gehen? Wie sieht es mit den anderen EU-Mächten, etwa Frankreich und Großbritannien, aus? Auf dem Balkan zeigt sich, daß deutsche und französische (oder auch britische) Interessen keineswegs immer kongruent sein müssen. Wird sich Deutschland – nach dem Motto, wir hätten unsere historische Schuld abzubüßen – weiterhin totstellen, oder wird es den Mut finden, seine Interessen in die Waagschale zu werfen?

Seit dem Sturz des Kommunismus ist östlich und südöstlich der deutschen Grenze keine Harmonie eingekehrt – vom Balkan bis Tschetschenien, vom Kaukasus bis in die Tiefen Zentralasiens nimmt die Zahl der Konfliktherde nicht ab, sondern zu. Je mehr man sich mit gesundbeterischen Formeln der Verantwortung für eine Gestaltung der Dinge zu entziehen versucht, desto schlimmer werden die Folgen sein. Was geschieht, wenn es mit der vielgerühmten "Sicherheitspartnerschaft" in Richtung Rußland nicht klappt? Wie soll man reagieren, wenn der schlummernde Konflikt zwischen Moskau und den Balten an der Ostsee neu auflodert?

Soll man sich dann für den großen russischen Bruder – oder für die kleineren und mittleren Nationen "Zwischeneuropas" entscheiden? Die belächelten Amerikaner haben ihre think tanks – die Deutschen aber betreiben ihre germanozentrische Nabelschau. Sag mir, wo die Männer (oder auch Frauen) sind, die der Außenpolitik zu Stil, Profil, Kenntnisreichtum und Intuition verhelfen? Man denkt an Bismarck, Stresemann oder Adenauer. Warum haben wir keine Außenpolitiker solchen Kalibers?


 
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