© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Ware Gerechtigkeit
John Grishams Roman "Die Bruderschaft" ist zu leichte Kost für echte Genießer
Silke Lührmann

Früher pflegte John Grisham seinen Anspruch auf künstlerische Integrität einzuklagen, indem er aus den Zeiten plauderte, als er noch ein verkanntes Genie war, für dessen Erstling "A Time To Kill" sich kein Verleger begeistern mochte: ein Besessener, Getriebener, der in aller baptistischen Herrgottsfrühe aufstand, um vor der Arbeit in seiner Kanzlei zu schreiben. Das hat er längst nicht mehr nötig: Millionen zufriedener Klienten auf der ganzen Welt – die meisten von ihnen Wiederholungstäter – sprechen für sich, und unter den Anwalts- wie unter den Schriftstellerkollegen haben sich schon copy-cats gefunden, die Grishams so überaus erfolgreichen Modus operandi nachahmen.

Heute hat er die Beweisführung umgekehrt: Wenn man an Kunst soviel Geld verdienen kann, muß sie eine Ware sein. "Man sollte Filme als Produkte betrachten, die hergestellt und auf den Markt gebracht werden", lautete das Plädoyer, das er dem "Natural Born Killers"-Regisseur Oliver Stone 1996 auf den Seiten des Oxford American entgegenschleuderte. "Wenn mit einem Produkt etwas schiefgeht, ob aufgrund des Designs oder eines Defektes, und ein Schaden entsteht, dann werden seine Hersteller zur Verantwortung gezogen."

An Gleichheit – dieses Ideal, das zwar in der Unabhängigkeitserklärung steht, seitdem aber vom Kommunismus enteignet wurde – glaubt in den USA kaum jemand mehr, an Gerechtigkeit um so emphatischer: an den Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung oder jedenfalls auf Schadenersatz. So verklagt man Philip Morris, wenn man an Lungenkrebs erkrankt, und McDonald’s, weil der Kaffee zu heiß war – und Hollywood, wenn das Kind an den Waffenschrank geht und sich erschießt.

Wie überall in der freien Welt greift auch hier das Preis-Leistungs-Verhältnis. In den frühen 1990ern löste das Jurastudium an der Harvard Law School die Wall Street als Sprungschanze in einen goldgepflasterten Lebenslauf ab – und der Anwalt den Immobilienmakler als Spitzenreiter unter den verhaßtesten Berufsgruppen. Anwaltswitze gehören zu den wenigen, die man ungestraft erzählen kann – je fieser, desto politisch korrekter. Mittlerweile muß Julia Roberts als gute Fee herhalten, um die Amerikaner in ihrer Zuversicht zu bestärken, nicht nur in einem Rechtsstaat, sondern sogar in einer gerechten Gesellschaft zu leben. "Ob ich Anwältin bin? Quatsch, ich hasse Anwälte – ich arbeite bloß für sie", beruhigt sie als Erin Brockovich eine mißtrauische Klägerin und erhielt ihren ersten Oscar dafür. Kein Wunder, daß Grisham nach dem phänomenalen Erfolg seines zweiten Buches "Die Firma" (1991) den Anwaltsberuf an den Nagel hängte.

Aus dem Gerichtssaal hat er sich verabschiedet, vom Rechtswesen nicht. Grishams Übersetzer brauchen ein juristisches Fachwörterbuch dringender als Stilsicherheit, und der deutschen Leserschaft sind die angelsächsischen Geschworenenprozesse schon vertrauter als die hiesige Rechtsprechung. Wie Chirurgen, die sich die Zeit nehmen, dem Patienten eine Operation Schritt für Schritt darzulegen, haben Grisham und Komplizen wie Steve Martini oder Scott Trurow einen komplexen und faszinierenden Organismus für den Laien durchschaubar gemacht. Dabei kann man sich oft des flauen Gefühls nicht erwehren, in Wirklichkeit Obduktionsberichte zu lesen. Denn wo Richter so korrupt, Jurys so käuflich sind, kriegt die blinde Göttin Justitia keine Luft mehr.

Grisham widersteht hartnäckig der Versuchung, Gerichtsverhandlungen als Metapher für die Prozesse des Lebens zu schreiben. Der Mensch interessiert ihn nur als Justizsubjekt. Was liegt da näher, als "Die Bruderschaft" gleich im Gefängnis anzusetzen, wo das Individuum sich über die Verbrechen definiert, derer es – schuldig oder unschuldig – überführt wurde. Die meisten sind schuldig, denn die Welt ist schlecht und mit jedem Grisham-Roman wird sie schlechter. Diesmal ist sie so schlecht, daß außerhalb der Gitter üblere Gauner sitzen als dahinter. Der CIA-Direktor zum Beispiel, der vom Rollstuhl aus weltweit die Marionetten tanzen läßt. Während er die Wahl eines unbekannten Kongreßabgeordneten zum nächsten US-Präsidenten choreographiert, walten in der Justizvollzugsanstalt Trumble drei entwürdigte Richter ihres früheren Amtes. "Die Regeln waren einfach: kurze Plädoyers, keine Offenlegung von Schriftstücken, schnelle Urteile, die für alle, die die Zuständigkeit des Gerichts anerkannten, bindend waren. Es gab keine Berufung – an wen hätte man sich auch wenden sollen? Zeugen wurden nicht vereidigt; man erwartete geradezu, daß sie logen. Immerhin befand man sich ja in einem Gefängnis. (…) Die üblichen Verfahrensregeln waren aufgehoben, damit die Wahrheitsfindung schnell erfolgen konnte – ganz gleich, welche Form die Wahrheit annahm": Offenbar ist Grisham selbst die Geduld mit seinen fiktiven Kollegen vergangen. Das ist schade für den Leser, der auf machtgierige Staatsanwälte, feurige Verteidiger und Überraschungszeugen hoffte – langatmige Ausführungen bleiben ihm ja in der Regel sowieso erspart. Statt dessen vertrödelt der Autor viel kriminelle Energie mit einer Erpressungsgeschichte, die Dieter Hildebrandt in der Zeit "ungefähr so spannend wie Kinderpost" fand. Für mäßige Spannung sorgt lediglich die Frage, ob es Grisham gelingen wird, die beiden Erzählstränge einigermaßen glaubhaft zusammenzuführen. "Geld gewinnt jede Wahl": Soll diese Praktik noch schockieren, die Robert De Niro schon in "Wag the Dog – Wenn der Hund mit dem Schwanz wackelt" so überzeugend vorführte?

Die besten Thriller dieses Genres sind wie Pommes: Man verschlingt sie schuldbewußt-genüßlich, ohne Nährstoffe zu beziehen. Schlimmstenfalls verdirbt man sich den Magen, aber auch das steht bei solch leichtverdaulicher Kost nicht ernsthaft zu befürchten. Die Insassen fühlen sich leidlich wohl in ihrem Bundesgefängnis im Sonnenstaat Florida, wo Streitigkeiten mit einstweiligen Verfügungen statt mit Messerstechereien beigelegt werden und anscheinend niemand auf die Idee kommt, sich an einem Mithäftling zu vergreifen: "weder Zäune noch Stacheldraht, Wachtürme oder bewaffnete Wachen ..., die nur darauf warteten, Ausbrecher niederzuschießen. (…) Es gab 1.000 Gefangene in Trumble, aber nur wenige wollten fliehen. Das Gefängnis war angenehmer als die meisten Schulen." Die blutigen, "nicht jugendfreien" Werbespots, die die CIA für ihren Präsidentschaftskandidaten produziert, strapazieren nur das Papier.

In den USA und Großbritannien steht schon der nächste Grisham auf den Bestsellerlisten: "A Painted House", eine Rückbesinnung auf die 1950er Jahre, als die Welt nicht gerechter war. Der Markt für das Produkt, das er anbietet, scheint keineswegs gesättigt. Fragt sich bloß, ob die schlechtgelaunte Langeweile, die "Die Bruderschaft" verursacht, einen Straftatbestand darstellt.

 

John Grisham: Die Bruderschaft. Heyne Verlag, München 2001, 448 Seiten, geb., 46 Mark


 
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