© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Geschichte von unten
Aribert Reimann liest deutsche und englische Feldpostbriefe: Der große Krieg der Sprachen
Orlanda Rossetti

Im Zuge der Beschäftigung mit Alltagsgeschichte wurde in den achtziger Jahren die Perspektive der "Geschichte von unten" etabliert. Zunächst in sogenannten Geschichtswerkstätten beheimatet, griff diese Beschäftigung mit den Leidtragenden der Herrschaftsverhältnisse auch auf die Universitätslandschaft über. Die Historische Friedensforschung übertrug diese Sichtweise auf den einfachen Soldaten, dessen Leben an der Front und in der Etappe anhand von Feldpostbriefen erforscht wurde. Ideologisch entschlackt kann dieses Unterfangen zu durchaus passablen Resultaten führen, wenn man sich aus den Klauen nationalmasochistischer Selbstanklage befreit und vergleichend das Kriegserlebnis einzufangen sucht.

Aribert Reimann hat in seiner Tübinger Dissertation das vorgestellte Programm am Beispiel deutscher und englischer Soldaten im Ersten Weltkrieg durchgeführt. Als zusätzliche Vergleichsebene führt Reimann noch die Tagespresse der beiden Kriegsgegner an. Tatsächlich kann der Autor sich vom ideologiekritischen Paradigma propagandistisch irregeleiteter und von der Politik mißbrauchter Soldaten lösen. Gleichwohl argumentiert auch Reimann im Zweifelsfall gegen das wilhelminische Meinungsklima. Als Ergebnis seiner Studie kristallisiert sich heraus, daß die im August 1914 neugewonnene soziale Kohäsion in Deutschland von Reimann als bloßes Konstrukt "entlarvt" wird. Die innere Einheit sei dort von der Erinnerung an die anfängliche, klassenübergreifende und integrierend wirkende Begeisterung im Sommer 1914 zu einer Zielvision umgedeutet worden. England blieb hingegen angesichts des günstigeren Kriegsverlaufes von der ideologischen, konfessionellen und sozialen Zerrissenheit verschont. Reimann führt dies zum einen auf den günstigeren Kriegsverlauf zurück. Dies gilt aber sicherlich nur für den Zeitraum ab Sommer 1918, denn bis zur letzten großen Westoffensive Ende März 1918 war die Niederlage weder an der deutschen Front noch in der Heimat einkalkuliert. Daneben führt Reimann die englische Koalition aus Liberalen und Konservativen an, die ab 1915 die Einheit der englischen Heimatfront garantierte. Sicherlich unterschätzt er dabei das auch von ihm erwähnte englische Minderheitenlager: Die Pazifisten gerieten im Hinblick auf die Einführung der Wehrpflicht im Januar 1916 und die Katholiken im Kontext des irischen Osteraufstands im selben Jahr in Opposition zur Mehrheitsmeinung. Mit den beiden russischen Revolutionen 1917 geriet zudem die Arbeiterschaft in Aufruhr. Angesichts der Transformation des englischen Parteiensystems nach dem Krieg, der Substitution der Liberal Party durch Labour, zeigen sich auch auf der Insel große Erschütterungen. Allerdings hatte England nach Kriegsende nicht zusätzlich mit all den Problemen zu kämpfen, die mit Versailler Vertrag verbunden werden, die in der heutigen Forschung weitgehend marginalisiert werden.

 

Aribert Reimann: Der große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkrieges, Klartext Verlag, Essen 2000, 311 S., 58 Mark


 
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