© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Königsberger Perspektiven
Ostpreußen: Rußland, Polen, Litauen, Deutschland und die EU – alle blicken auf die Enklave
Bernhard Knapstein

Seit 1990 steht Königsberg nach Jahrzehnten des Schattendaseins wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Nun, da Königsberg, die Hauptstadt des deutschen Ostpreußens, unter russischer Souveränität steht, im Norden an Litauen (Memelland) und im Süden an Polen (Ermland und Masuren) grenzt und die Europäische Union im Hinblick auf den absehbaren Beitritt Polens und Litauens ein besonderes Interesse an der Zukunft der Region hat, steht Königsberg heute in dem Zentrum eines Pentagramms der individuellen Perspektiven. Fünf Blickwinkel auf Königsberg werden seine Zukunft bestimmen. Über die aktuellen Verhältnisse im Königsberger Gebiet berichtet z.B. Das Ostpreußenblatt regelmäßig. Mit diesem Beitrag sollen die Zukunftsvorstellungen Brüssels, Moskaus, Berlins, Wilnas und Warschaus im Überblick kurz vorgestellt werden.

Königsberg wird bald ein Enklavendasein auf EU-Territorium fristen. Anfang des Jahres legte die Europäische Kommission dem Rat daher ein mehrseitiges Arbeitspapier "Die Europäische Union und das Kaliningrader Gebiet" vor. Grundlage des Papiers waren Überlegungen zu Waren- und Personenverkehr, Energieversorgung, Verbrechensbekämpfung, Gesundheitsversorgung und Wirtschaftsentwicklung in bezug auf das Königsberger Gebiet. Allerlei Vorschläge zur Erarbeitung von Lösungswegen aus der Vielzahl von Problemen stellt die Kommission gegenüber dem Rat zur Disposition. Zwar herrscht das Bewußtsein vor, daß nur ein Gesamtkonzept Erfolg haben wird, gleichwohl wird in Brüssel noch immer auf ein Flickschusterwerk von verschiedenen Programmen zur Wirtschaftsförderung hingearbeitet. Insgesamt setzt Brüssel darauf, daß Moskau eine teilweise Öffnung des Gebietes zuläßt. Keine Rolle spielt für Brüssel die Geschichte der Region. Deutschland engagiert sich gleichfalls "mit rund 10 Projekten für insgesamt 10 Millionen Euro" im Gebiet, stellt das Arbeitspapier nüchtern fest.

Das größte Problem bereitet den EU-Vordenkern das Schengener Abkommen, das die Grenze zum Königsberger Gebiet hermetisch abriegeln wird, wenn nicht im Dialog mit Moskau eine Lösung gefunden wird.

Der russische Präsident Putin zeigt sich gegenüber Brüssel geneigt, Königsberg zu einer wirtschaftlichen Modellregion zu machen. Dabei soll die Exklave Königsberg das russische Wirtschaftsfenster zur EU werden. Dies bedeutet Öffnung des Gebietes nach außen. Währenddessen schaffte der russische Handelsminister German Gref – übrigens ein Rußlanddeutscher – vorübergehend den Status der Stadt als Sonderwirtschaftszone mit Zollvergünstigungen ab, der zur Abschottung Königsbergs führte. Gleichzeitig soll in den Ausbau der Hafenanlagen, in eine zweite Gasleitung aus Rußland und ein Heizkraftwerk investiert werden. Ziel sei die "wirtschaftliche Konsolidierung des Gebietes", so der deutschstämmige Gref. Königsberg wurde zur "prioritären Zone russischer Regionalpolitik" erklärt.

Moskau befürchtet, im Zuge der Osterweiterung der EU die Kontrolle über das Königsberger Gebiet zu verlieren. Dies erklärt auch die Überstellung der Zuständigkeit für alle Hafenbetriebe, die in einer staatlichen Gesellschaft zusammengefaßt werden sollen, an das übergeordnete Moskauer Transportministerium. Moskau befindet sich damit "im Widerstreit zwischen liberalen Ideen und nationalen Ängsten", wie die Neue Zürcher Zeitung kürzlich völlig korrekt resümierte. In Königsberg selbst gibt sich Gouverneur Wladimir Jegorow zwar in Gesprächen über die Zukunft des Gebietes offen gegenüber ausländischen Gesprächspartnern, gleichwohl wird er in Putins Fahrwasser bleiben und sich keinesfalls an einer nationalen Desintegration beteiligen. Moskau bildet damit den Fixpunkt im Pentagramm.

Nach der Öffnung des Gebietes für Touristen stand Königsberg gerade in Deutschland im Blickwinkel der nicht-offiziellen Öffentlichkeit. Aus Bonner Sicht behielt Königsberg sein Schattendasein. Erst seit Beginn der "Berliner Republik", pikanterweise unter der Regentschaft der rot-grünen Bundesregierung Gerhard Schröders, liegt Königsberg wieder im Blickfeld der deutschen Bundesregierung. Freilich, die deutsche Perspektive ist keine rein deutsche. Die Bemühungen der Vertriebenen, gemeinsam mit Russen, Litauern und Polen in und für Ostpreußen Aktivitäten zu entfalten, werden in Berlin nicht (offiziell) registriert. Zu groß sind die Befürchtungen, alte Ressentiments könnten im Ausland gegenüber Berlin aufbrechen.

Die Angst, dem Vorwurf des Revanchismus anheimzufallen, führt in der offiziellen Sprachregelung Berlins dazu, daß Königsberg eine europäische und keine deutsche Angelegenheit ist. Erst kürzlich ließ Bundeskanzler Schröder in einem Interview mit einer russischen Zeitung verlautbaren, "Kaliningrad" könne eine Brücke zwischen der EU und Rußland sein. Ein deutsches Eigeninteresse schloß Schröder kategorisch aus. Damit ist das Interesse der deutschen Öffentlichkeit (täglich berichten wenigstens vier bis fünf Tageszeitungen über das Gebiet) weitaus größer, als Berlin Aktivitäten zugunsten der Region entfaltet. Als Ostseeanrainerstaat, Hauptgläubiger und wohl auch mit Rücksicht auf BMW, das ein Montagewerk in Königsberg unterhält, bleibt Berlin wohl dennoch mit Moskau im Gespräch über die Zukunft Königsbergs. Letztlich bleibt festzuhalten, daß Berlin bis dato insbesondere die vertriebenen Ostpreußen in die Königsbergfrage nicht mit einbeziehen möchte und auch keine entsprechende Empfehlung gegenüber Brüssel ausspricht, obwohl eine europäische Lösung immer auch deutsche Interessen wahren sollte.

Litauen, als nördlicher Nachbar des Königsberger Gebietes, hat ein natürliches Interesse, an der Entwicklung des Gebietes mitzuwirken. Es gehört zu den wichtigsten Handelspartnern Königsbergs. Im Rahmen der sogenannten Nidden-Initiative will Litauen auf bilateraler Ebene mit Rußland den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf eine höhere Ebene heben. Auch die Probleme der Umweltverschmutzung und der hohen AIDS-Rate in Königsberg werden hierbei thematisiert. Eine Reihe von Projektvorschlägen im Verkehrswesen, Energieversorgung und im Rahmen von Grenzübergangsfragen wurden auf der Ebene der "Nordischen Dimension" vereinbart. Litauens Perspektive ist derzeit weitgehend eine bilaterale. Eine europäische Dimension ist hier noch nicht erkennbar. Letzteres ist insoweit nachvollziehbar, als Litauen im Verhältnis zu Polen und etwa Estland von einer EU-Mitgliedschaft noch einiges entfernt ist.

Polen hat bisher einige Kooperationsvereinbarungen zwischen den Wojwodschaften Pommern und Ermland/Masuren einerseits und Königsberg andererseits vorzuweisen. Auf kommunaler Ebene existieren Partnerschaften und Austauschprogramme. Führend ist Polen in dem Bereich der Joint Ventures mit Königsberger Unternehmen.

Mehr noch als Berlin diskutiert die Intelligenzija Warschaus das Verhältnis zum Königsberger Gebiet. So haben jetzt polnische Zirkel wie die Warschauer "Stefan-Batory-Stiftung" und das "Zentrum für internationale Beziehungen" sowie die "Kulturinitiative Borussia" aus Allenstein eine Denkschrift vorgelegt, welche in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurde. Abhängig von dem Verhältnis zwischen Moskau und Brüssel wird hierbei in erster Linie eine "freundschaftliche Nachbarschaft" mit Königsberg in Betracht gezogen, die durch Visaerleichterungen (etwa 30-Tage-Visafreiheit) geprägt werden soll.

Die Autoren der Denkschrift, Gregorz Gromadzki und Andrzej Wilk, warnen jedoch vor direkten Kontakten zwischen Brüssel und Königsberg, weil dies in Moskau unkalkulierbare Reaktionen hervorrufen könnte. Im wesentlichen sei daher das Verhältnis der EU zu Königsberg auf die unmittelbar nachbarschaftlichen Beziehungen Litauens und Polens zur Enklave aufzubauen. Auch die starken deutschen Bundesländer könnten Hilfestellungen leisten. Für die Autoren steht damit die polnisch-litauische Klammer im Vordergrund der Überlegungen, was auch mit offiziellen Stellungnahmen aus Warschau korrespondiert. Diese Position ist zwar vordergründig auch europäisch, überwiegend ist sie aber an nationalen Interessen ausgerichtet.

Während in Brüssel (und damit auch in Berlin) vornehmlich ökonomische Fragen zur Lösung der Königsberg-Frage im Vordergrund stehen, ist für Wilna und Warschau insbesondere das unmittelbar nachbarschaftliche Verhältnis wichtig. Dabei ist begreiflich, daß beide Staaten sich um die Befindlichkeiten in Moskau sorgen. Dennoch haben sie mit der Einführung der Visumspflicht eine erste Barriere gegenüber der russischen Exklave aufgebaut.

Bemerkenswert ist an der polnischen Denkschrift, daß Berlin im Verhältnis zu Königsberg offensichtlich keine Rolle spielen soll, sondern lediglich die untergeordneten Bundesländer zur Mitarbeit willkommen sind. Damit denkt Polen im Gegensatz zu Brüssel "historisch", freilich aus polnischer Sicht. Keine der genannten Perspektiven wird der Region Ostpreußen als historische, wirtschaftliche, landschaftlich-ökologische Einheit gerecht, denn keine der Perspektiven bemüht sich um eine ganzheitliche Lösung aller noch ausstehenden Fragen.


 
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