© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Kinder als Armutsrisiko
Armutsbericht der Bundesregierung: Die interessantesten Details finden sich am Rande
Ekkehard Schultz

Das Wort "Armut" weckt in den westlichen Industrieländern immer noch in erster Linie Assoziationen mit großen Bevölkerungsanteilen in Entwicklungsländern. Formal spiegelt sich dies auch in den Kernpunkten der Analysen internationaler Organisationen wider. Betrachtet man beispielsweise die Statistiken der FAO, der Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen, so sind dort die Länder Europas, Nordamerikas und Australiens nahezu ausgeklammert. Zumeist finden sich darin nur die sogenannten "absolut" Armen wieder, die vielfach nicht einmal ein Einkommen von einem US-Dollar am Tag erzielen.

Nimmt man als primäres Kriterium von Armut den Mangel an Nahrung, wären weltweit derzeit etwa 800 Millionen Menschen als "arm" zu betrachten. Nahezu jeder achte Bewohner der Erde gilt nach jüngsten Erkenntnissen als unterernährt.

Die klassische marxistische Theorie von Armut geht einen Schritt weiter. Sie definiert denjenigen als arm, der die sogenannten drei Ursprungsbedürfnisse des Menschen nicht oder nicht in ausreichendem Maße befriedigen kann, nämlich menschenwürdig zu wohnen, zu essen und sich zu kleiden. Diese aus heutiger Sicht eher bescheiden anmutende Theorie hat freilich den Nachteil, daß sie in höchstem Maße interpretationsfähig ist. So beantwortet sie beispielsweise die Frage nicht, was unter "menschenwürdigem" Wohnen zu verstehen ist. Zumindest in der sogenannten ersten und zweiten Welt sind die Verhältnisse des Manchesterkapitalismus, in denen häufig auf engstem Raum Familien mit vier und mehr Kindern zusammengepfercht in Hinterhöfen ihr Dasein fristeten, kaum noch Teil der sozialen Realität. Zudem ist es wenig sinnvoll, zum Beispiel die Frage, wie viele Quadratmeter ein Mensch zur Verfügung braucht, pauschal zu beantworten. Wie sehr sich die Verhältnisse geändert haben, zeigt die Tatsache, daß heute viel eher die auf dem Stand der aktuellen Technik möglichen bzw. wünschenswerten (Wohn-)Umstände als Diskussionsmaßstab herangezogen werden als der wenig konkrete Faktor der "Menschenwürdigkeit".

Allerdings verdeutlicht diese Theorie, daß es für eine konkretere Armutsanalyse wenig sinnvoll erscheint, nur Faktoren wie Unterernährung oder absolutes Einkommen als Maßstäbe heranzuziehen. Zudem ist es ein Unterschied, ob beispielsweise das Hungersymptom grundlegend durch die Möglichkeit, über ausreichende Einkommen zu verfügen, bekämpft wird oder die Bevölkerung von Entwicklungsländern Nahrungsmittel nur als Dauerleihgabe von "außen" erhält.

echnet man diejenigen als arm dazu, die solche sogenannten Primärbedürfnisse nicht aus eigenem Vermögen bestreiten können, erhöht sich die Anzahl der Armen wiederum erheblich. Zumindest zu Vergleichszwecken ist es vielfach sinnvoll, die ständige Abhängigkeit von sozialen Hilfen als Armutsfaktor einzubeziehen. Ein zwar äußerst niedriger Lebensstandard, der allerdings durch ein geringes Eigeneinkommen gehalten und stabilisiert werden kann, ist zweifelsohne auch nach marxistischer Theorie "menschenwürdiger" als die dauerhafte Abhängigkeit von "Almosen". Davon abgesehen, können nach dieser klassischen Definition auch Menschen in hochentwickelten Industriestaaten als "arm" klassifiziert werden, wie zum Beispiel sogenannte Nichtseßhafte.

Der aktuelle "Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung mit dem Titel "Lebenslagen in Deutschland" läßt es bei diesem Ansatz freilich nicht bewenden, sondern faßt den Begriff "Armut" in Deutschland noch erheblich weiter. Die Orientierungsgrundlage des Berichts ist die sogenannte "relative Armut". Nach einer Definition des Rates der Europäischen Gemeinschaft von 1984, sollten als "arm" diejenigen Personen, Familien oder Gruppen einer Gesellschaft bezeichnet werden, "die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist". Als "arm" ist demzufolge derjenige anzusehen, der im Vergleich zu den "mittleren" (üblichen) Standards einer Gesellschaft über (erheblich) geringere Ressourcen verfügt. Nicht "arm" ist demgegenüber derjenige, der in seinem Staat private und gesellschaftliche Bedürfnisse uneingeschränkt pflegen kann, die eine allgemeine Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen.

Bereits aufgrund der gewählten Begriffe stehen in dieser Definition die sozialen Ungleichheiten in einer Gesellschaft im Mittelpunkt. In der Regel werden dabei diejenigen als arm definiert, die weniger als 50 (alter OECDMaßstab) bzw. 60 Prozent (neuer OECD-Maßstab) des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens erzielen. Da sehr große Vermögen den Durchschnitt erheblich verschieben können und somit zu Verzerrungen führen, werden im Regelfall nach einem Schlüssel sehr stark vom Durchschnitt nach oben abweichende Einkommen aus der Betrachtung herausgenommen.

Keine Vergleiche mit anderen westlichen Staaten möglich

Trotzdem ist diese Definition zu Recht nicht unumstritten. Einerseits macht sie selbst Vergleiche zwischen hochentwickelten Industriestaaten nahezu unmöglich, in denen aufgrund des allgemeinen Preisniveaus, unterschiedlicher Besteuerung von Einkommen und Vermögen etc. erheblich divergierende Einnahmen erzielbar sind. Dabei sollte es in erster Linie weniger auf durchschnittliche Einkommenswerte, sondern auf die Möglichkeiten ankommen, dieses Kapital zur Deckung von materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen und der Ermöglichung einer weitgehenden Chancengleichheit in der Gesellschaft einsetzen zu können. So wird jedoch jeder Gesellschaft ein eigenes Armutsniveau zugeschrieben, vollkommen ungeachtet dessen, welche unterschiedlichen Chancen zum sozialen Aufstieg diese den in ihr lebenden Individuen und Gruppen eröffnet. Richtig ist allerdings, daß sich Menschen häufig bereits dann benachteiligt fühlen, wenn die Erbringung formal "gleicher Leistungen" mit einer erheblich unterschiedlichenVergütung einhergeht. So ist die weitverbreitete Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern weniger auf die tatsächliche wirtschaftliche Situation als vielmehr auf das Bedürfnis zurückzuführen, sich am "anderen" Teil Deutschlands zu messen. Unberücksichtigt bleibt dabei, daß es in reicheren Ländern im Regelfall erheblich häufiger möglich ist, auch den Beziehern "unterdurchschnittlicher" Einkommen einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard zu sichern.

Sinnvoller wäre es gewesen, sich bei der Definition von Armut weniger an den Einkommen/Vermögen als vielmehr am Lebensstandard einer Gesellschaft zu orientieren. Hier bieten beispielsweise die regelmäßigen Analysen der Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Ausrüstungsgegenständen relativ konkrete Anhaltspunkte. Dazu zählen neben Herden, Waschmaschinen und Kühlschränken auch Geräte, die Kommunikation und Mobilität ermöglichen, wie Fernseh- und Rundfunkgeräte, Telefone und PKWs. Hier liegt der Grad der Ausstattung der Haushalte in Deutschland erheblich über dem europäischen Durchschnitt.

Diese Werte wenigstens in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen, wäre als Bringschuld des Berichtes anzusehen. Statt dessen wird das Schwergewicht einseitig auf eine wenig flexible Theorie von einer Art der Chancengleichheit gelegt, die als Grundaufgabe einer Gesellschaft die Schaffung zumindest vergleichbarer materieller Ausstattung ansieht.

Mit diesen gravierenden Einschränkungen bleibt der Bericht an vielen Stellen auf dem Niveau der üblichen Sozialberichte stehen, die, neben zweifellos lobenswerten Details, ihre lobbyistische Absicht letztlich schwerlich verdecken können, wie etwa der Gewerkschaften und Sozialverbände. Den dadurch hervortretenden Mangel an Lebendigkeit verdeutlicht auch der Aufbau des Berichtes: Anstatt mit anschaulichen Bildern aus der sozialen Wirklichkeit zu operieren, wie sie beispielsweise die "Altenberichte" der Bundesregierung auszeichnen, präsentieren die Autoren an vielen Stellen sehr allgemein gehaltene Analysen, die durch einen "Zahlensalat" noch undurchsichtiger gemacht werden.

Sogar Vollzeitbeschäftigte beziehen Sozialhilfe

Ein weiteres Manko der Berichterstattung besteht darin, daß das vorliegende Material größtenteils nicht für den speziellen Untersuchungsgegenstand erhoben wurde, sondern sich aus bereits ausgewerteten Statistiken zusammensetzt. Herangezogen wurden volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Finanzierungsrechnungen und Kreditstatistiken der Deutschen Bundesbank und Gebäude- und Wohnungsstichproben. In vielen Fällen ist es unmöglich, die unterschiedlichen Parameter sinnvoll zu vergleichen, da diese unterschiedliche Erhebungszeiträume aufweisen. So wird zwar als Vergleichsmaßstab für langfristige Entwicklungen häufig das Jahr 1998 als Ist-Wert herangezogen. Allerdings sind die letzten Erhebungen in vielen Bereichen weit vor diesem Zeitpunkt angesetzt, wie zum Beispiel bei der Gebäudestichprobe im Jahr 1993. Das vermindert wiederum erheblich die Aussagekraft vieler Werte, insbesondere in bezug auf die Entwicklung in den neuen Bundesländern.

Ferner greift der Bericht auf Arbeitslosenstatistiken, Sozialhilfe- und Asylbewerberleistungsstatistiken, die Kinder- und Jugendhilfestatistik, Wohngeldstatistiken, Krankenkassen- und Pflegekassenstatistiken sowie die Ausbildungsstatistik zurück. Zur konkreteren Dateninterpretation dienten Einkommens- und Verbrauchsstichproben, die Daten zur wirtschaftlichen Situation privater Haushalte liefern und seit 1962/63 in etwa fünfjährigen Abständen erhoben werden, sowie auf Mikrodaten der Sozialhilfe- und Einkommenssteuerstatistik, allgemein zugängliches Material über eidesstattliche Versicherungen und Mietschulden sowie die Ergebnisse ernährungswissenschaftlicher Untersuchungen. Neben Material des Statistischen Bundesamtes sowie von Bundesländern nutzten die Autoren auch die Statistiken der Wohlfahrtsämter und Gewerkschaften.

In ihren Kernaussagen fallen die Ergebnisse der Studie wenig überraschend aus. Nach dem Maßstab des durchschnittlichen Einkommens und Vermögens sieht der Bericht in Deutschland überdurchschnittliche Armutsrisiken bei Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, kinderreichen Familien, alleinerziehenden Frauen (und Männern), Wohnungslosen, Ausländern, Aussiedlern, Behinderten, Suchtkranken, beruflich gering Qualifizierten und Überschuldeten. Gefährdet sind, so die Autoren, auch Geringverdiener sowie Personen in "besondereren Lebensumständen", wie Geschiedene oder Verwitwete.

Interessanter sind die Details am Rande des Berichts. So verdeutlicht beispielsweise eine Aufschlüsselung der Einkommensverhältnisse aller, die in irgendeinem Maße Leistungen zur ständigen Hilfe empfangen, daß immerhin 3,9 Prozent der 15- bis 64jährigen Sozialhilfeempfänger eine Vollzeitbeschäftigung, weitere 4,5 Prozent eine Teilzeitbeschäftigungsverhältnis aufweisen. Bei diesen Personen liefe zweifellos Schröders Pauschalkritik an Sozialhilfeempfängern vollkommen ins Leere. Eine bedenkliche Entwicklung verdeutlicht auch die Analyse der Ursachen, die zur Abhängigkeit von der Sozialhilfe führten: In Gesamtdeutschland brachte in fast jedem zehnten Fall eine Trennung/Scheidung vom Ehe-/Lebenspartner die Betroffenen in diese Situation, in nahezu jedem zwanzigsten Fall die Geburt eines Kindes. In den neuen Bundesländern gehört eine solche Geburt mittlerweile zu den Hauptursachen für den Bezug von Sozialhilfe.

Durchaus faktenreich belegt der Bericht, daß die klassische Erzielung von Arbeitseinkommen gegenüber der Vermögensbildung durch Wertpapiere, Aktien, Guthaben, Immobilien etc. immer mehr in den Hintergrund tritt. Ein besonderes Augenmerk richtet der Bericht daher auch auf die Vermögenssituation. Der durchschnittliche Haushalt in Westdeutschland verfügte 1998 über ein Vermögen von 254.000 Mark, in Mitteldeutschland von 88.000 Mark (Geld- und Immobilienvermögen). 49 Prozent der westdeutschen und 34 Prozent der mitteldeutschen Haushalte verfügen über Immobilienbesitz. Fast wesentlicher als die immer noch erheblichen Unterschiede zwischen West- und Mitteldeutschland ist jedoch die ungleiche Verteilung des Geldvermögens der Haushalte innerhalb der Gesamtgesellschaft. So betrug das Bruttogeldvermögen 1998 71.000 Mark pro westdeutschen und 32.000 Mark pro mitteldeutschen Haushalt. Dabei verfügte das "untere Viertel" der westdeutschen Haushalte jedoch lediglich über durchschnittlich 8.000 Mark. Dieser Anteil beträgt lediglich ein Prozent am Bruttogeldvermögen aller (westdeutschen) Haushalte.

In Mitteldeutschland verfügt das "untere Viertel" nur über durchschnittlich 6.000 Mark Bruttogeldvermögen, einen Anteil von 1,5 Prozent an der Summe aller (mitteldeutschen) Haushalte. Erstaunlicherweise ändert sich das Bild kaum, wenn man statt des unteren Viertel die gesamte untere Hälfte (50 Prozent) der Haushalte einbezieht. So verfügen diese Haushalte in Westdeutschland mit durchschnittlich 33.000 Mark nur über 7,5 Prozent des Bruttogeldvermögens aller Haushalte, in Mitteldeutschland mit 19.000 Mark über lediglich elf Prozent des Bruttogeldvermögens aller Haushalte.

Entgegen landläufigen Vermutungen besteht mittlerweile auch in Mitteldeutschland eine erhebliche Differenz zwischen den Vermögen, die freilich noch nicht vollständig das Niveau des Altbundesgebietes erreicht. Ferner zeigen diese Daten, daß sich die Vermögensunterschiede zwischen West- und Mitteldeutschland in deutlich stärkerer Weise weniger aus der generellen unterschiedlichen Ausstattung mit Immobilienvermögen ergeben, sondern vielmehr aus dem Wert der Immobilien. Das reine Geldvermögen in Form von Spar- und Bausparguthaben, Wertpapieren und Termingeldern spielt demzufolge bei der Kluft zwischen alten und neuen Bundesländern die erheblich geringere Rolle.

Selbstdarstellung der Regierung Schröder

Große Vorsicht ist dagegen bei allen Interpretationen des Berichtes zur Einkommens- und Vermögenssituation angebracht. Beispielsweise kann es leicht zu fragwürdigen Interpretationen führen, wenn erhebliche Strukturveränderungen in der Haushaltsführung marginalisiert werden. So ist bei dem pauschalen Hinweis auf stagnierende oder leicht sinkende Realeinkommen von Durchschnittsverdienern zu beachten, daß innerhalb der letzten Jahrzehnte die Zahl der Einpersonenhaushalte stark zugenommen hat. Die Anzahl derjenigen, die bereits in der Ausbildungsphase ihr Elternhaus verlassen, ist in den letzten dreißig Jahren rapide gewachsen, auch wenn sich in letzter Zeit die Zahl der "Nesthocker", d.h. derjenigen, die auch nach dem Berufsstart und der Erzielung regelmäßiger Einkommen bei den Eltern wohnen bleiben, wieder etwas zu wachsen scheint.

Ein früher Auszug aus dem Elternhaus verlangt von jungen Menschen die Übernahme erheblicher Pauschalkosten, wie für Wohnungsausstattung, sowie für Dauerausgaben wie Miete, Heizkosten, Fernseh- und Rundfunkgebühren. Letztlich bewirkt die rapide gestiegene Zahl von Singlehaushalten eine Verteuerung der Lebenshaltungskosten. So ist die Belastung durch Miete und Nebenkosten in einem Haushalt, der aus einer Person besteht, prozentual erheblich höher als die vergleichbaren Kosten für einen flächenmäßig größeren Zweipersonenhaushalt, wenn man von der Erzielung von zwei Arbeitseinkommen ausgeht.

Mit der starren Orientierung am Durchschnittsvermögen verzichtet der Armutsbericht der Bundesregierung bewußt auf die Möglichkeit eines sinnvollen und interessanten europäischen bzw. weltweiten Vergleichs. So kann man sich beim Lesen des Berichtes des Eindrucks nicht erwehren, daß die vorliegende Studie weniger als Analyse zur Bekämpfung sozialer Mißstände dienen, sondern vielmehr der Regierung Schröder soziales Renomee verleihen soll. Damit ist jedoch letztlich keinem gedient, der sich in irgendeiner Form in den Statistiken – welche Definition man in diesem Fall auch anwenden mag – unter den "Armen" wiederfindet.


 
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