© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Pankraz,
M. Klonovsky und das Geheimnis um Ramses

Auch mindere Obstsorten können schmecken, wenn einem ein Prachtexemplar der Gattung zwischen die Zähne kommt. Ein solches Prachtexemplar der Sorte "Historische Wissenschaftlerromane" ist Michael Klonovskys Buch "Der Ramses-Code" (erschienen bei Rütten & Loening, Berlin) über die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen durch Jean-François Champollion zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.

Klonovsky scheut sich nicht, in sämtliche Fettnäpfchen zu treten, die das ziemlich fragwürdige Genre bereithält. Der real-historischen Figur, hier also Champollion, werden alle möglichen interessanten Eigenschaften angedichtet, für die die Geschichtsschreibung nicht den geringsten Beleg liefert, deftige Liebesaffären vor allem, die die Story auch für ein modernes Massenpublikum lesenswert machen sollen. Ereignisse, die sich in großen Abständen hintereinander begeben haben, werden aus dramaturgischen Gründen frech zusammengezogen, sogenanntes "Zeitkolorit" wird knüppeldick aufgetragen und was dergleichen gattungsbedingte Unarten mehr sind.

Trotzdem macht die Lektüre hohen Spaß, man lernt eine Menge, die Gelehrtenfigur des Champollion und seine epochale Leistung treten höchst plastisch hervor. Vergleicht man Klonovskys Buch mit dem vor vierzehn Jahren erschienenen Roman "Champollion der Ägypter" von Christian Jacq, so gebührt die Palme eindeutig Klonovsky. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Jacq, immerhin studierter Ägyptologe, watet hilflos in irgendwelchen Erzählsümpfen herum, und man fragt sich am Ende verwundert, weshalb er diesem Mann Champollion eigentlich so viele Seiten gewidmet hat. Bei Klonovsky hingegen hat selbst der nur mäßig interessierte Leser auf fast jeder Seite ein Aha-Erlebnis, wird voll hineingerissen in das gewaltige geistige Abenteuer, das die Entzifferung der Hieroglyphen damals war. Und er bekommt zusätzlich einen selten genauen Begriff von den Rätseln der Sprache, ihren Ursprüngen und ihrer allmählichen Schriftwerdung.

Bewundernswert das Schlußkapitel des Buches, wo Champollion in einem großen (von Klonovsky frei erfundenen) Akademievortrag vor der versammelten Gelehrtenschaft von Paris, darunter auch Alexander von Humboldt, seine Entdeckungen gegen Konkurrenten, Neider und Skeptiker glanzvoll verteidigt. Unwiderlegbar bewiesen und an vielen Beispielen vordemonstriert wird da also, was frühere Entzifferungskünstler immer nur erahnten und was sie immer wieder in Verwirrung stürzte: Die Schrift der alten Ägypter war keine reine Bilder- und Symbolschrift, sie war gleichermaßen und in ein und denselben Kontexten auch schon Lautschrift, Buchstaben- und Silbenschrift, "Alphabet". Aber sie war gewissermaßen ein Alphabet, das keines sein wollte.

Die alten Ägypter erkannten die Vorteile einer konsequenten Buchstabenschrift durchaus – und führten sie dennoch nicht bei sich ein, und zwar aus ästhetischen und religiösen Gründen. "Sagen Sie", wird Champollion aus dem Auditorium gefragt, "warum haben die Ägypter nicht, nachdem sie einmal das Prinzip der Buchstaben erkannt hatten, ihre Schrift auf ein Alphabet gegründet?" Und Champollion-Klonovsky gibt eine denkwürdige Antwort, die sich jeder getrost über den Fernseher hängen kann:

"Ich bin kein Hellseher, Monsieur, ich weiß nicht warum … Die alten Ägypter waren gewiß ein sehr beharrliches Volk, anders übersteht eine Kultur nicht die Jahrtausende. Warum ein bewährtes System ändern? Das hätte eine gewaltige Verarmung bedeutet, die zauberhafte Vielfalt Hunderter heiliger Schriftzeichen auf ein läppisches Alphabet mit zwei Dutzend Buchstaben zu reduzieren – ebenso wie es eine Verarmung bedeutete, den heiter schillernden Himmel der antiken Götterwelt zugunsten des einen Gottes auszufegen. Wer weiß, was sie noch alles in diesen Zeichen gelesen haben … Wenn eine Kultur tot ist, ist auch ihre Seele gestorben. Kein Lebender kann sie mehr hundertprozentig verstehen."

So etwas liest man gern in einem "populären" Historienschmöker, besonders wenn die Aussage auf fast jeder Seite so faktenreich bekräftigt wird wie bei Klonovsky. Die Schrift der alten Ägypter, erfährt man wie nebenbei, war nicht das Ergebnis einer langen Entwicklung, sondern eines Tages war sie plötzlich da, eine Erfindung der Pyramidenpriester, die den "Draht nach oben" zu haben begehrten. Ihre Bilder waren von Anfang an Buchstabe und Symbol in einem, und so hatten auch die bloßen Lautzeichen teil an jener magischen Beseeltheit, die jedem Bild innewohnt.

Das Bild der Hornviper beispielsweise ist in den allermeisten Inschriften nur das Zeichen für den Laut "f". Daneben aber bleibt es das Bild einer zischenden, gefährlichen Schlange, das in manchen Totentexten durch Verstümmelung ausdrücklich "unschädlich" gemacht wird. Es gibt auf den Steinreliefs und auch in den Papyri keine strenge Trennung zwischen den Bildern der Schrift und den Bildern der Kunst, beide ergänzen einander, gehen ineinander über. Auch banalste Texte leuchten intensiv und hintergründig.

Anspruchsvolle Leser (und jeder schriftkundige Ägypter hielt sich offenbar für einen solchen) lasen stets auf mehreren Ebenen und hatten ihr Vergnügen und ihre Genugtuung daran. Einzig Sklaven, barbarische Kameltreiber und fremde Kaufleute jenseits der Stadtmauern, im östlichen Delta etwa oder auf der Halbinsel Sinai, brauchten "eindeutige" Texte, nämlich Befehle, Gebrauchsanweisungen, Zählworte. So wurde aus dem Bild des Ochsenkopfes, das
(unter anderem) für "Rind", "Aleph", stand, exklusiv der Buchstabe "a", das Alpha. Das war praktisch für Leute, die nicht weiter zum Nachdenken kommen wollten oder durften.

Jean-François Champollion hat diesen Mechanismus um 1820 als erster erforscht und durchschaut. Und Klonovsky erzählt das kenntnisreich und frisch von der Leber weg nach. Dank beiden!


 
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