© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Innenansichten einer tödlichen Illusion
Ausstellung: "Dokument und Konstrukt" – Fotografien von Arkadij Schaichet
Doris Neujahr

Rückblickend erscheint es rätselhaft, welche Begeisterung die Sowjetunion in den zwanziger und dreißiger Jahren bei den Intellektuellen Westeuropas auslöste. Es waren ja nicht nur kommunistische Funktionäre, Journalisten und Schriftsteller, die vom sozialistischen Aufbau, vom "Neuen Leben" und dem "Neuen Menschen" in der Sowjetunion schwärmten, auch kritischere Geister wie Stefan Zweig oder Joseph Roth, die einem bürgerlichen Individualismus-Begriff huldigten, konnten sich dem Aufbaupathos und dem Eindruck kollektiver Begeisterung nur schwer entziehen. Um diese Verführung zu erklären, muß man die sowjetische Film- und Fotokunst jener Zeit analysieren, denn sie vor allem prägten das Bild von der Sowjetunion im Ausland.

Gerade in Deutschland waren die Filme Eisensteins und Pudowkins ungemein populär, und die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) aus dem kommunistischen Pressekonzern Willy Münzenbergs verbreitete in einer Auflage von 500.000 Exemplaren spektakuläre Fotos von zukunftsfrohen Komsomolzen und prometheusgleichen Arbeitern, die Kraftwerke in Gang setzten und Eisenbahnstränge durch die russische Weite verlegten. Sie suggerierten die Synthese aus künstlerischem und gesellschaftlichem Avantgardismus, aus geistigem Anspruch und ökonomischer und politischer Realität. Wer derart präpariert in die Sowjetunion fuhr, der wollte keine Wirklichkeit mehr kennenlernen, sondern eine Vision bestätigt finden.

Zu den wirksamsten russischen Fotografen jener Jahre gehörte Arkadij Schaichet (1898–1959), dem das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst jetzt eine Ausstellung widmet. Sein vielleicht berühmtestes Foto, "Lenins Glühbirne" (1925), zeigt ein altes Ehepaar, welches ehrfürchtig das elektrische Licht bestaunt, das in seine armselige Bauernhütte verlegt wurde. Die Bäuerin trägt um den Hals ein Kreuz, aber an der Wand hängt – statt einer christlichen Ikone – bereits das Bild eines Revolutionsführers. Die Leninsche Formel: "Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung!" erscheint hier als die dialektische Aufhebung des biblischen: "Es werde Licht!"

Auf Schaichets Fotos fällt die ungeheure Präsenz der abgebildeten Personen auf. Sogar dort, wo man die Stilisierung, den artifiziellen Charakter der Bildkomposition sofort bemerkt, bewahren sie fast immer ihre Individualität. Im Frühwerk tritt der Einfluß des Konstruktivismus deutlich hervor, jener vor dem Weltkrieg in Rußland entstandenen modernen Kunstrichtung, die auf dem Bekenntnis zur modernen Technik und der Beschränkung auf einfache geometrische Formen beruht. Häufig werden die Bilder von einer Diagonalen zerschnitten, was den abgebildeten Vorgängen, Personen oder Gebäuden eine ungeheure Dynamik verleiht. Das "Treppenhaus eines Neubaus" in Moskau (1928) oder die Draufsicht des "Kiewer Bahnhof" (1936) wird so zu einem Symbol planvoll gelenkter Energie und einer alles umfassenden, rationalen und humanen Macht.

Diese Mischung aus Energie und widerspruchsfreier Rationalität schlägt in eine Suggestion um, die den Betrachter überwältigt und damit einen kritischen Diskurs gar nicht erst zuläßt oder ihn präventiv der Lächerlichkeit preisgibt. Die AIZ veröffentlichte 1931 Schaichets große Fotoserie "24 Stunden aus dem Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie", die einen modellhaften sowjetischen Alltag in prä-paradiesischen Farben malte. Die Wirkung war ungeheuer. Die Titelseite zeigte zwei lachende Mädchen mit Tennisschlägern im Arm, den Accessoires des Privilegiertensports, angeblich die Töchter eines Metallarbeiters namens Filipow. Bezeichnenderweise wurden diese Fotos in der Sowjetunion nur teilweise freigegeben. Es wäre von Bild zu Bild zu untersuchen, wo Schaichet wissentlich Propaganda betreibt, wo er einer Autosuggestion erliegt oder tatsächlich eine verborgene Wirklichkeit an die Oberfläche geholt hat.

Die bösartige Kehrseite des sowjetischen Alltags kommt immerhin indirekt zur Geltung. Einige Bilder, die das politische Leben der Sowjetunion auf den ersten Blick propagieren, ziehen es, bei genauerem Hinsehen, in Zweifel . Die Personen auf dem Foto "Einstimmig" aus der Serie "Wahlen zum Dorfsowjet" (1925) wirken eingeschüchtert oder fatalistisch, keinesfalls aber überzeugt, mündig oder begeistert. Die "Enteigneten ’Kulaken‘" (1931) sind kein menschlicher Auswurf, zu dem sie Stalin erklärte, sondern arme Kreaturen, schutzlos Wind und Wetter und womöglich noch schlimmeren Gewalten preisgegeben.

1941 wurde Schaichet Kriegskorrespondent. Pathetische Frontbilder vermied er, sie hätten auch unglaubwürdig gewirkt. Bemerkenswert sind seine gestochen scharfen Fotos über den Vormarsch der Roten Armee in Ostpreußen. Auf dem Bild "Sowjetische Truppen auf dem Vormarsch durch das eroberte Mühlhausen" (Januar 1945) ist ein russischer Schützenpanzerwagen zu sehen, der von einer Anzahl Soldaten begleitet wird. Die Häuserzeile im Hintergrund ist noch weitgehend unzerstört, nur aus einem Gebäude schlagen bereits hohe Flammen. Die Gesichter der Soldaten wirken hart. Der Betrachter weiß, was der deutschen Bevölkerung, die sich in den Kellern versteckt hält, in den nächsten Stunden blüht.

Es fällt auf, daß Schaichet, dessen Auftrag die Kriegspropaganda ist, den Deutschen, wenn er sie fotografiert, ihre menschliche Würde beläßt. Auf zwei Fotos sieht man Danziger, die Ende März 1945 mit letzter Habe aus ihrer brennenden Stadt flüchten. Schaichet gab den Bildern den Titel: "Auch sie haben das Böse erfahren".

 

Arkadij Schaichet: "Dokument und Konstrukt. Fotografie zwischen N.E.P. und Großem Vaterländischen Krieg". Deutsch-Russisches Museum, Zwieseler Str. 4, Berlin-Karlshorst. Bis zum 27. Mai. Der Katalog kostet 20 Mark.


 
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