© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/01 11. Mai 2001

 
Nach langer Irrfahrt festes Land
Helmut Kraussers "Schmerznovelle": Ein Psychiater macht Überstunden
Baal Müller

Um den Nörgelteil gleich vorwegzuschicken: So exzeptionell, unerhört und atemberaubend ist das Ereignis nicht, von dem Helmut Kraussers "Schmerznovelle" handelt, daß sich sein neuestes Opus bedenkenlos in die novellistische Gattungstradition einreihen ließe, für die seit Boccaccio die Erzählung einer "unerhörten Begebenheit" konstitutiv ist.

Ein vierzigjähriger Psychiater wird von seinem emeritierten Doktorvater und väterlichen Freund auf einen ganz speziellen Fall angesetzt, mit dem dieser, vielleicht nicht so sehr wegen seiner angeblich etwas veralteten wissenschaftlichen Methoden, sondern eher aus physiologischen Gründen nicht mehr so recht fertig wird: "Du hattest eine Erektion?" fragt der alte Meister, und der gelehrige Schüler erwidert strotzend: "Ja, klar." "Wieso ist das klar?" setzt sich der maskuline Dialog fort. "Dazu ist bei mir nicht viel nötig." "Du Glücklicher." Weil der alte Herr, obgleich er sich sonst "in gewählterem Ton" ausdrückt, selbst nicht mehr ganz so glücklich ist, gibt er dem Nachwuchswissenschaftler einen klugen Rat mit, den dieser auch im Verlauf der Geschichte gründlich beherzigen wird: "Du hättest sie vögeln sollen." Schließlich sei sie ja nicht seine Patientin.

Daß sie es bald wird, hindert den "Spezialisten für sexuelle Aberrationen" freilich nicht daran. Ein Arztroman ist Kraussers Schmerzbuch trotzdem nicht, obwohl sich der "junge Arzt" sehr genretypisch in seine Patientin verliebt und der Autor auch sonst vor trivialromantischen Anleihen nicht zurückschreckt.

Allerdings ist Kraussers Gegenwartsromantik doch ein wenig derber, drastischer, sehr entschleiert und ernüchtert, eine morbide schwarze "wavige" Romantik, manchmal ziemlich gruftig – wenn der Analytiker und sein "Fall" es im Spätherbst auf dem Friedhof treiben – und insgesamt sehr akademisch und belesen: Ein Buch von einem intellektuellen Enddreißiger für Alters- und Zunftgenossen. Daher wird man das Gefühl nicht los, daß man irgendwie alles schon kennt, zumal wenn man selbst einmal studiert und mittlerweile die Dreißig überschritten hat: Sehr gut kennt man beispielsweise den jovialen alten Professor – auch wenn er in der Realität nicht ganz so offenherzig ist –, der über einen ungeheuren Wissensschatz verfügt und ungezählte Anekdoten zum besten geben kann, aber auch die lädierte vierzigjährige Psychotante – eine "Kontamination von Männerphantasien" (FAZ) –, halb Domina und halb Kindfrau, früher Schauspielerin im verspätet avantgardistischen, sehr lustmolchigen Theaterprojekt ihres verstorbenen Mannes, und besonders auch ihren Mann selbst, der aus kleinlichen Verhältnissen stammte, sich als Maler und Kleinkunstregisseur durchschlug, gelegentlich wegen Drogendelikten im Gefängnis saß und sehr larmoyante Bettelbriefe an seine ärmliche Mutter schrieb, sich über den bösen Vater und das elterliche Unverständnis beklagend und doch im schon vorgerückten Sohnesalter ab und zu zweihundert Mark fordernd: "Du rettest mich damit. Ich bring Dir das Geld auch persönlich vorbei, wenn Du noch hundert drauflegst für die Zugfahrt."

Neben diesen sehr scharf gezeichneten, lebensechten Figuren verblaßt der Ich-Erzähler etwas, wird gleichsam zum Mann an sich, der erst als Lüstling und Sexkonsument erscheint, zuletzt aber seine Patientin wirklich liebt und nun nicht mehr "aus Spaß", sondern für ein gemeinsames Leben zurechttherapieren möchte: "Benutze ich in bezug auf Johanna das Wort Liebe, benutze ich es bewußt für etwas, das über bloße Begierde und Faszination hinausging. Etwas, das viel mehr war als die Zirkusnummer verwirrter Hormone. Etwas, das stark dem Gefühl glich, nach langer Irrfahrt festes, vertrautes Land zu betreten. Ich bildete mir ein, daß wir zusammen eine Zukunft haben und glücklich werden könnten."

Jedoch – das Buch ist, wie gesagt, kein Arztroman und hat demnach kein Happy End, obwohl es paradoxerweise die gewaltige, seelenverschmiedende, des Todes spottende Macht der Liebe auf einen riesigen Sockel hebt, vor dem die Potenzprotzerei des an vorgezogener Midlife-Krise leidenden Doktors dahinschlafft. Bezeichnend ist übrigens, wie bedenklich früh die Alterssorgen des Protagonisten mit ihren verregneten Herbststimmungen am voralpenländischen, vermutlich Starnberger, See im Zeitalter des Jugendkultes bei tatsächlicher demographischer Überalterung einsetzen.

Fazit der Lehre, die unser junger Arzt nicht an der Universität, sondern "im Leben" lernt: Die Liebe gibt es wirklich; nur offenbart sie sich ihm, indem er auf sie verzichten muß, mit zerstörerischer, tödlicher Gewalt: "Ich schrie vor Schmerz so laut, daß ich Ralf Palms letzte Worte kaum verstand. Ich glaubte, er sagte schlicht ’auf Wiedersehen‘. Und lachte. Setzte das Messer an Johannas Kehlkopf und stach zu. Trieb es mit einem gewaltigen Stoß quer durch den ganzen Hals, bis es am Nacken heraustrat. Binnen Sekunden schwamm das Schlafzimmer in Blut." Ralf Palm aber – und das ist die Pointe und "unerhörte Begebenheit" der Schmerznovelle – hat sich bereits vor einigen Jahren in einem quasirituellen Selbstmord vor seiner Frau mit Benzin übergossen und angezündet; er ist jedoch – der schon zu Lebzeiten eine Neigung zum Satanismus hatte und nach seinem Tode von offenbar sehr fehlgeleiteten jungen Menschen als eine Art Märtyrer verehrt wurde – einem Teufel gleich in seine Frau hineingefahren, die nun im doppelten Wortsinn von ihm "besessen" ist.

Vielleicht war es aber auch umgekehrt, denn "ebensogut ließe sich behaupten, Ralf Palm, oder was aus ihm geworden war, wäre ihr Gefangener gewesen, den sie mit allen Mitteln daran hinderte, aus ihr herauszufahren."

Beide Hypothesen sind jedoch nur "Modelle", die "die komplexe Struktur jenes Zusammenlebens nicht annähernd erfassen", wie der gereifte Ex-Playboy und Ex-Szientist lapidar feststellt. Bringt man es aber doch auf eine banale common sense-kompatible Allerweltsformel, so würde diese philiströs lauten: Johanna leidet an einer besonders hartnäckigen Schizophrenie, wechselt ständig zwischen ihrer früheren Person und der ihres Ehemannes hin und her und wird schließlich, als sich die Patientinnenaffäre zu einer echten Gefahr für Ralfs eigentlich sehr tolerante Liebe zuspitzt, von dem eifersüchtigen Ralf-in-ihr erdolcht.

Nicht so sehr in der Geschichte als solcher, sondern vielmehr in ihrem geschickten Aufbau, ihrer dramatischen Handlungsführung sowie der psychologischen Prägnanz liegt die Meisterschaft der "Schmerznovelle". Ihr Autor muß keine großen Worte machen, wechselt zielsicher von einer Szene zur nächsten, von einer weiblichen Emphase zur anderen und von Johanna oder der Frau überhaupt zu ihrem geliebten innerlichen Quälgeist. Sprühte sie eben noch vor Erotik, so kann sie – oder er – unvermittelt feststellen: "Sie kennen diese Frau ja nicht. Erst ich habe sie zur Teufelin gemacht. Das geht. Es ist ein Zaubertrick unter Himmlischen." Ein bißchen zaubern kann Helmut Krausser auch, obwohl es bei ihm sehr irdisch, allzu irdisch zugeht. Sein Zauber ruft allerdings nichts Außergewöhnliches hervor, sondern er steckt im bekannten, genauen, fast zu gewöhnlichen Detail.

 

Helmut Krausser: Schmerznovelle. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001. 143 Seiten, geb., 29,90 Mark


 
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