© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/01 18. Mai 2001

 
Alle Räder standen still
Griechenland: Generalstreik gegen Rentenreform / Folgenschwere Niederlage für Simitis / Parallelen in Europa
Gregor M. Manousakis

Als ein Generalstreik am 26. April in der griechischen Hauptstadt Athen das alltägliche Verkehrschaos ins fast Unerträgliche steigerte, da konnte man in der europäischen Presselandschaft nur wenig über die Hintergründe des Streiks erfahren. Dieser war eine Woche zuvor spontan angesetzt worden, nachdem Ministerpräsident Konstantin Simitis seinen Plan für eine Rentenreform vorgelegt hatte, der auf breiteste Ablehnung stieß – auch innerhalb seiner regierenden Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (Pasok). Neben dem Gewerkschaftsbund GSEE und dem Verband der öffentlichen Bediensteten ADEDY, die gemeinsam zum Generalstreik aufgerufen hatten, gingen auch zahlreiche andere Berufsgruppen auf die Straße, die seit der Befreiung von der osmanischen Fremdherrschaft noch nie gestreikt hatten.

Selbst Besatzungen privater Fähren, Feuerwehrleute, orthodoxe Geistliche und Journalisten schlossen sich dem Massenprotest an. Bis auf einige private Geschäfte waren fast alle Dienstleistungsbetriebe geschlossen, und das öffentliche Leben Griechenlands stand weitgehend still. Schulen, Universitäten und Behörden blieben geschlossen, die Mitarbeiter von Banken und staatlichen Medien stellten die Arbeit ein. Die staatliche Fluggesellschaft Olympic Airways reduzierte ihren Flugverkehr. Die Bahn und der öffentliche Nahverkehr stellten ihre Fahrten weitgehend ein. Krankenhäuser unterhielten lediglich einen Notdienst. Aber auch private Publikationen konnten am Donnerstag nicht in Druck gehen, so daß am Freitag keine Zeitungen erscheinen konnten. Fernsehen und Rundfunk stellten den Sendebetrieb ein. Selbst Karikaturen sonst eher seriöse Zeitungen karikierten Premier Simitis als KZ-Kommandanten, der "Arbeiten bis zum Umfallen" fordere.

Das moderne Griechenland steht vor den gleichen Problemen wie fast alle europäischen Staaten: es werden einerseits weniger Kinder geboren, die später einmal als Beitragszahler die Sozialkassen füllen. Andererseits leben die Rentenbezieher – u.a. wegen des medizinischen Fortschritts – immer länger. Das bringt wachsende Schwierigkeiten, die staatlichen Renten zu bezahlen. Doch im südöstlichsten EU-Land gibt es auch andere Gründe, die sich in einem Namen subsumieren lassen: Andreas Papandreou. Der 1996 verstorbene ehemalige Führer der sozialistischen Pasok und langjährige Ministerpräsident (1981–1989 und 1993–1996) erfand den Aufbau einer Parteianhängerschaft mittels des Sozialversicherungssystem des Landes: frühzeitige Renten, wer sie wollte, Hunderttausende von Anstellungen im öffentlichen Dienst. Dazu kam das Berenten von sozialen Gruppen, die keinen Rentenanspruch hatten, darunter auch der Genossen, die nach der Niederschlagung der kommunistischen Rebellion (1946–1949) in den Ostblock flüchteten und zurückkamen, als dort alles zusammenbrach. Die Sozialkassen wurden außerdem für Staatshaushaltzwecke geplündert. So wurde Papandreou der Liebling des Volkes, und seine Pasok gewann fast alle Wahlen. So wundert es nicht, das in einer von der Deutschen Postbank veröffentlichten aktuellen EU-Umfrage, nur 42 Prozent der Griechen eine private Altersvorsorge für nötig halten. In Deutschland sind es immerhin 73 Prozent, in Österreich 68 Prozent, die der staatlichen Altersvorsorge nicht mehr voll vertrauen.

Vor den Wahlen vom vergangenen Jahr versetzten seine sozialistischen Epigonen den Sozialkassen den Todesstoß. Sie setzten die sozialen Rücklagen ein, um den Börsenspekulanten zu zeigen, wie erfolgreich die Wirtschaftspolitik der Regierung Simitis sei.

Nun wurde die Quittung präsentiert: Wegen der Überlastung der Rentenkassen waren die griechischen Renten schon immer niedrig: maximal 210.000 Drachmen (rund 1.350 Mark) für Arbeitnehmer des privaten Sektors und höchstens 320.000 Drachmen (rund 1.850 Mark) für die Beamten. Doch selbst diese Renten werden in den kommenden Jahren nicht mehr bezahlt werden können. Im letzten Jahr gab es bei 5,3 Millionen Erwerbstätigen etwa 2,5 Millionen Rentenempfänger. Dieses Verhältnis verschlechtert sich nach den heutigen Gegebenheiten sukzessiv auf 5,5:2,8 (2010), 5,0:3,4 (2030) bis 4,3:3,8 im Jahre 2050.

Der Regierung Simitis blieb daher nichts anders übrig, als einen Plan vorzulegen, der die Kürzung der Renten um 16 bis 29 Prozent vorsieht. Die volle Kürzung soll aber erst 2027 eintreten, die bisherigen Renten sollen unangetastet bleiben. Um Verwaltungskosten zu sparen, sollen die bisher 56 Pensionskassen auf acht reduziert werden. Das Rentenalter soll auf 65 Jahre angehoben werden. Für die Griechen, deren Mehrzahl bisher schon mit 55 in den Ruhestand ging, wäre dies eine besonders schmerzliche Neuerung. Wie in Deutschland wollte man das Problem möglichst weit in die Zukunft verschieben – der Wähler könnte ja die Rechnung präsentieren.

Eine Rentenreform mit tiefen sozialen Einschnitten ist in Griechenland eine zwingende Notwendigkeit, der Simits-Plan stellte eine gute Grundlage für die Verhandlungen mit den Beamten- und Arbeitnehmerverbänden dar. Doch Papandreou wirkt nach: Einhellig wurde der Plan abgelehnt, man rief zum Generalstreik auf. Nach Meinungsumfragen lehnen über 76 Prozent der Griechen die Vorschläge der Regierung ab. Die innerparteiliche Pasok-Opposition triumphierte. Die andere Opposition, die Bürgerlichen und Kommunisten im Parlament, sind schwach und farblos. Wie so oft versuchen sie auch jetzt, im trüben Fahrwasser der Pasok zu fischen.

Nach dem Generalstreik nahm die Regierung ihren Plan zurück und will nun, in Zusammenarbeit mit den interessierten Verbänden, einen neuen vorlegen. Diese haben aber ihre Marschroute bereits festgelegt: Die höheren Einkommen sollen zusätzlich besteuert werden, damit bei den Renten alles beim alten bleibe. Am traditionellen 1.Mai bekräftigten über zehntausend Domonstranten ihre Forderungen. Daß so die in- und ausländischen Investitionen und damit auch die Zahl der Beschäftigten – der Beitragszahler an die Rentenkassen – zurückgehen werde, kümmert die Beamten- und Arbeitnehmerverbände nicht. Kenner der Materie warnen bereits: Trotz Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion läuft Griechenland Gefahr, das ärmste EU-Mitglied zu bleiben. Ein chronisch defizitärer Staatshaushalt läßt sich im Euro-Verbund auch nicht lange durchhalten, denn die Notenpresse für Drachmen gibt es ab 1. Januar 2002 nicht mehr. Alles hängt von der Standhaftigkeit Simitis’ ab. Diese wird aber innerhalb der regierenden Pasok von den Jüngern Papandreous unterminiert.

"Griechische Verhältnisse" drohen über kurz oder lang fast allen europäischen Staaten. Das wirklich heißeste Eisen in Italien bleibt auch nach den Wahlen die Rentenreform. Beide Lager kündigten vor den Wahlen an, sie wollten sich an EU-Richtlinien orientieren. Der linke Ulivo-Spitzenkandidat Francesco Rutelli versprach bei älteren Arbeitnehmern, die nach Erreichung des Rentenalters ihren Arbeitsplatz beibehalten wollen, die Lohnkosten zu senken. Silvio Berlusconi will ein System von Rentenfonds einführen und die Mindestrenten anheben. Sollte die nächste italienische Regierung das Rentenalter auch erhöhen, dann wäre ein Generalstreik nicht ausgeschlossen und der Regierungschef am Ende. Nur 44 Prozent der Italiener sind bislang von privater Altersvorsorge überzeugt.

Doch selbst die reiche Schweiz hat vergangene Woche beschlossen, das Rentenalter bis 2009 schrittweise anzuheben: In der inzwischen 11. Reform der staatlichen Alters- und Hinterbliebenversorgung (AHV) wurde das Rentenalter für Mann und Frau einheitlich auf 65 Jahre festgelegt. Und dabei hat die Schweiz längst ein Drei-Säulen-Modell, das eine verpflichtende Privat-Rente vorsieht.


 
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