© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
Die Zwei-Klassen-Medizin kommt
Sozialpolitik: Das Gesundheitssystem in Deutschland wird nach der Bundestagswahl 2002 geändert
Jens Jessen

Der Änderungsdruck auf das deutsche Gesundheitssystem wird stärker. Von vielen noch nicht bemerkt, hat sich das im November 2000 vorgelegte Jahresgutachten des Sachverständigenrates für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in selten klarer Form mit der Gesundheitspolitik der Regierung Schröder auseinandergesetzt. Die Gesundheitsreform des Jahres 2000 habe weit weniger Reform gebracht, als selbst Pessimisten erwartet hätten. Der Sachverständigenrat forderte – wie schon 1996 – einen Umbau der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und eine Abschaffung der sektoralen und globalen Budgets, was zu Zugangsbeschränkungen und Innovationsgefährdungen führen würde. Die Wirtschaftsweisen sprechen sich grundsätzlich für eine Individualisierung der Gesundheitsrisiken, die Privatisierung des Versicherungsschutzes über eine verpflichtende Privatversicherung und eine wettbewerbsorientierte Weiterentwicklung des bestehenden Systems aus. Nur so könnten die Fehlanreize und Schwächen des Systems im Interesse der Versicherten, aber auch der Leistungserbringer, beseitigt werden. Bemerkenswert ist, daß der Sachverständigenrat in seiner Zusammensetzung nach Antritt der rot-grünen Regierung vollständig erneuert wurde.

Am 15. Februar diesen Jahres äußerte sich Frank-Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes, dem Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte, überraschend in der gleichen Weise. Für einen Gewerkschaftsführer erstaunlich drehte er nicht die Gebetsmühle der solidarischen Krankenversicherung. Montgomery macht deutlich, daß "die Zukunft der GKV nicht mit den Regelungen der Vergangenheit gesichert werden kann: Die Verlängerung des Lebens der Menschen, der medizinische Fortschritt und die Veränderungen der Arbeitswelt – alle diese Änderungen sind nicht zum Nulltarif zu haben". Deshalb müsse die Ideologie eines Umlagesystems durch ein System ersetzt werden, das den Einzelnen in die Verantwortung nimmt, von den Betroffenen selbst reguliert wird und zu einer internationalen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems führt. Auch hier zeigt ein Parteigänger der Schröder-Regierung einen Weg auf, der nach Äußerungen der neuen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt politisch nicht korrekt ist. Denn die SPD-Politikerin versprach: "Da jeder einzelne dasselbe Risiko der Krankheit trägt, teilen wir die Kosten der Krankheit und ihre Behandlung solidarisch unter allen potenziell Betroffenen auf." Es werde dabei bleiben, daß jeder Kranke ein Recht auf gesundheitliche Leistungen habe.

Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, widersprach der Ministerin zum Auftakt des Deutschen Ärztetages am Dienstag vergangener Woche in Ludwigshafen: In seiner Grundsatzrede plädierte Hoppe beim Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung für eine reduzierte Grundversorgung und freiwillige Zusatzversicherung. Hier könne die Gesundheitspolitik von der Rentenpolitik lernen: "Trauen Sie den Menschen, die Ihre Altersvorsorge sichern müssen, auch den verantwortlichen Umgang mit Ihrer Gesundheit zu", meinte der Standesvertreter.

Der Brennpunkt Gesundheit (12/2000) hat die Vorschläge des Direktors des Kieler Instituts für Gesundheitssystem-Forschung, Professor Fritz Beske, für eine Modernisierung der Aufgaben der GKV zusammengefaßt. Seit Jahrzehnten kämpft er dafür, das Wort "Versicherung" in der GKV wieder ernst zu nehmen. Eine Versicherung habe nicht die Aufgabe, Klein- und Kleinstbeträge zu übernehmen, sondern Leistungen zu finanzieren, die der Versicherte ohne Gefährdung seiner Existenz nicht bezahlen kann. Beske ist der Ansicht, daß der Leistungskatalog der GKV entschlackt werden muß, damit die Mittel für eine moderne Medizin für alle zur Verfügung stehen. Deshalb können "Prävention und Gesundheitsförderung, Vorsorgeleistungen, Gesundheitsuntersuchungen, künstliche Befruchtung, Zahnersatz, Mütterkuren, Soziotherapie und Patientenberatung … aus dem Leistungskatalog der GKV gestrichen werden. Das Krankengeld sollte gekürzt und die Selbstbeteiligung bei Arznei- und Hilfsmitteln erhöht werden." Bisher hat Beske immer freundliche Zuhörer gefunden, die politische Leichtgewichte waren und deshalb nichts bewegen konnten. Das könnte nach der Neuwahl 2002 anders sein, wenn das bisherige Leichtgewicht FDP so stark aus der Wahl herauskommt, daß sie die Grünen aus der Regierung drängen.

Bisher ließen sich die sogenannten Volksparteien von ihrer Solidaritätsschiene nicht abbringen, obwohl keine Gesundheitsreform seit 1977 dauerhaften Erfolg gezeigt hat. Durch die "Reformen" wurde vielmehr den moral hazard-Praktiken der Versicherten ebenso Vorschub geleistet wie Ausweichversuchen von manchen Ärzten, die Gängeleien und Einkommensverlusten durch illegales Verhalten zu entkommen suchen. Die uneingeschränkte freie Arztwahl für die Versicherten hat, wie der Sachverständigenrat betont, zu kostentreibenden Mehrfachuntersuchungen geführt, aber auch zu nicht abgestimmten Parallelbehandlungen. Die Strafverfolgungen durch Staatsanwaltschaften gegen Ärzte in vielen Bereichen Deutschlands zeigen deutlich, daß dieses System ausgedient hat. Die einzelnen Arztgruppen befinden sich in einem erbarmungslosen Clinch ums Überleben. Die Kassen machen Wettbewerb in einer wettbewerbsfeindlichen Umgebung mit untauglichen Mitteln. Die Versicherten fühlen sich verschaukelt, weil die Äußerungen der Politiker nicht mit dem tatsächlichen Geschehen in Krankenhäusern und Praxen übereinstimmen. Das Vertrauen zwischen allen Beteiligten im Gesundheitswesen ist noch nie so gering gewesen wie heute.

Die Wirtschaftsweisen favorisieren in ihrem Gutachten deshalb marktwirtschaftliche Steuerungskonzepte auf der Basis einer obligatorischen Mindestversicherung. Sie wissen aber, daß die Politik nicht bereit sein wird, den Weg einer privaten Pflichtversicherung für alle zu gehen. Deshalb bieten sie klugerweise einen alternativen Weg an: "Unstrittig ist, daß jede Reform, die diesen Zielen folgt, mehr Eigenverantwortung und Kostenbewußtsein von den Versicherten abfordert und auch eine Neuordnung der solidarisch finanzierten Leistungen verlangt. Im Vergleich zu einem paradigmatischen Systemwechsel kann eine evolutorische, wettbewerbsorientierte Weiterentwicklung des derzeitigen Systems in Schritten vorgenommen werden und überfordert damit nicht die Akteure. Eine Reform in kleinen Schritten muß kein Nachteil sein, wenn alle Schritte in die gleiche Richtung gehen."

Während Montgomery die Individualisierung der Gesundheitsrisiken anstrebt und Beske eine Entschlackung der GKV-Aufgaben, verknüpfen die Sachverständigen beide Forderungen für ihren evolutorischen Weg. Auch sie unterstützen eine GKV, die neuen Anforderungen dann schneller entsprechen kann, wenn sie sich von überflüssigen Leistungsangeboten "entfrachtet". Sie machen sich für die Einführung von Grund- und Wahlleistungen stark. Dabei denken sie an eine Liste der Kernleistungen, die sich als Rest der bisher in Sozialgesetzbuch V genannten Leistungen ergibt. Viele bisher finanzierte Leistungen werden in eine erweiterte Negativliste rutschen und nur noch als besonders versicherte Wahlleistungen zu erhalten sein. Und der Rat will mehr Verantwortung der Versicherten, Schritt für Schritt. Die Vorbereitungen für eine Reform wie bei der Rentenversicherung gewinnen Konturen.


 
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